1 November 2012, Rainer Nonnenmann, Musik Texte
Review (de)
Furie der Verschwendung - brilliant ins Werk gesetzt
Selten sah man einen schöneren Reigen aus leuchtenden Bühnenbildern und poetischen Kulissen. Eben noch im japanischen Garten, fand man sich unversehens in Venedig vor dem Dogenpalast wieder. Hier schaukelte ein Schiff durch wogende See, dort thronten die Pyramiden Ägyptens majestätisch im Wüstensand. Weiter ging die polyglotte Reise zu tropischem Urwald, brennender Akropolis, barockem Park, prächtigem Opernsaal und gotischer Kathedrale: in neunzig Minuten rund um die Opernwelt. Zusammen mit dem Bühnenbildner Klaus Grünberg zauberte Goebbels Szenen in Hülle und Fülle, wie sie manches Stadt- und Staatstheater in einer kompletten Spielzeit nicht auf die Bühne bringt. Grundlage des Ganzen sind – wie stets bei Cage seit 1950 – Zufallsoperationen, mit denen der Komponist einzelne Arien und Instrumentalstimmen aus vierundsechzig Opern der europäischen Tradition vom siebzehnten bis neunzehnten Jahrhundert auswählte, um sie mit ebenso zufällig ausgewählten Kostümen, Requisiten, Masken, Kulissen und Lichteinstellungen zu kombinieren. Alle Ereignisebenen und Details sind sekundengenau mit Stoppuhren zu koordinieren, was den Protagonisten und Technikern auf, hinter und über der Bühne eine ungeheure Logistik und Perfektion abverlangt. Die zehn Gesangssolisten erscheinen nach Zufallsfolge in prächtigen historischen Gewändern der Kostümbildnerin Florence von Gerkan als Walküre, Prinzessin, Papageno, Legionär, Carmen, Madame Butterfly oder mit Flügeln und Tierköpfen, um unabhängig von ihrer jeweiligen Erscheinung ganz andere Arien zu singen und abweichende Rollen zu verkörpern. Wie die Kulissen werden auch sie von der allmächtigen Hand des Zufalls wie Schachfiguren über vierundsechzig Planquadrate auf dem Bühnenboden (entsprechend den vierundsechzig Schafgarbenstengeln des altchinesischen Orakelbuchs „I Ging“) verschoben. Schließlich sind auch Versatzstücke aus Opernführern zu einem dadaistischen Nonsenstext collagiert, der in Übertiteln als vermeintlicher Inhalt der handlungslosen Szenen projiziert wird: „Da sie beschlossen haben, dass sie niemanden außerhalb heiraten wird, lässt er sich selbst zum Kaiser krönen. Sie, der gesagt wurde, er sei tot, fleht ihn an, sie anzublicken ...“ Auf der Bildebene ist Cages anarchische Zirkus-Ästhetik wunderbar umgesetzt, alle Opernbestandteile autonom zu behandeln und die Gleichzeitigkeit von Verschiedenem wirken zu lassen. Zuweilen entfaltet die strikte Trennung von Aktion und Szene auch grotesken Witz. Etwa wenn ein Sänger in Sitzhaltung geht, während das passende Sofa ganz woanders auf die Bühne getragen wird. Seltsames Eigenleben führen auch Vorhänge, die sich plötzlich vor eben auftretenden Darstellern wieder schließen, oder Scheinwerferkegel, die selbständig über das Tableau wandern. Zudem übernimmt die riesige Jahrhunderthalle Bochum eine eigenständige Partie, durch deren Glasdach sich nach warmem Abendrot eine blaue Ruhrgebiets-Sommernacht über die perspektivisch in die Ferne fliehende Bühne von fast einhundert Meter Länge senkt. Die Hauptrollen spielen indes die Bühnenarbeiter. Ihr ameisenhafter Fleiß gibt faszinierende Einblicke in das sonst hinter dem Theatervorhang verborgene Wirken. Insgesamt fünfzig Kulissenschieber und Beleuchter sind unentwegt am Auf- und Abbauen der sich abwechselnden und gleichzeitig überlagernden Szenen: Oper ist schön und macht viel Arbeit. Hier wird ein Walfisch hereingeschoben, dort ein großer Kristalllüster installiert, dann eine Lawine riesiger Pappmaschee-Gesteinsbrocken auf die Bühne gerollt. Indem die Maschinisten sichtbar auf der Bühne agieren und das Gemachtsein dieses Feuerwerks an Theatereffekten zeigen, betreibt die Illusionsfabrik zugleich ihre eigene Desillusionierung. Zuweilen sind die Verrichtungen der Bühnenarbeiter regelrecht als Corps de ballet choreographiert (Florian Bilbao). So werden von den Bühnenseiten exakt gleichzeitig lange Säulenreihen hereingeschoben oder Teppiche in fabelhaftem Zickzack entrollt. Während sich auf der Bildebene Verschiedenes spielend ergänzt, stört es sich in der Musik nur gegenseitig. Eine Arie macht die andere kaputt. Hier und da mögen Opernkenner Bruchstücke bekannter Melodien herausfischen. Doch im bezugslosen Ganzen verkommen auch solche Angelhaken zu traurig-lächerlichen Fremdkörpern. Cages Demontage und Neuordnung der Reservatenkammer der europäischen Operngeschichte zielt auf Gleichwertigkeit aller Elemente. Doch resultiert daraus nur eine betriebsame Nivellierung der Ereignisse und ihrer unterschiedlichen Material- und Wahrnehmungsebenen. Monteverdi, Donizetti, Mozart, Wagner, Verdi und Bizet bis hin zu Bergs „Wozzeck“ versinken allesamt in der trüben Monotonie eines babylonischen Stimmengewirrs. Ohne erkennbare Unterschiede wirkt alles entwertet, beliebig, gleichgültig. Entgegen sonstigen Additionsgesetzen ist hier das Ganze weniger als die Summe seiner Teile. Das viel beschworene „Kraftwerk der Gefühle“ wird zum kraftlosen Gewühle im Fundus der Gattung. Entsprechend distanziert und unbeteiligt verfolgt man die wild gewordene Polyphonie dieses rücksichtslosen Ab- und Lobgesangs auf die Gattung. Die Uraufführung von Cages zufallsgesteuertem Anti-Opern-Arrangement in Frankfurt 1987 wirkte improvisiert, anarchisch und heiter verspielt, nicht zuletzt, weil kurz zuvor bei einem Brand der Frankfurter Oper ein Teil der Bühnenbilder und Kostüme zerstört worden waren und die ganze Produktion kurzfristig ins Schauspielhaus hatte übersiedeln müssen (vergleiche MusikTexte 22, 59). Die insgesamt sechs ausverkauften Wiederaufführungen in Bochum boten dagegen barocke Opulenz und Prachtentfaltung. So faszinierend Heiner Goebbels einerseits die beträchtlichen Distanzen der Bochumer Jahrhunderthalle in Szene setzte, spielte sich andererseits vieles in zu großen Entfernungen ab, als dass der ganze liebevolle Detailreichtum noch richtig hätte gesehen werden könnte. Was auf der normalen Theaterbühne in Frankfurt kompakt erschien, wirkte nun im überdimensionierten Industriedenkmal verloren. Einen willkommenen Kontrast dazu bot der mit fünfundvierzig Minuten nur halb so lange zweite Teil „Europeras II“. Der bunte Schaubudenzauber des ersten Teils verkehrte sich hier zur Schwarz-Weiß-Projektion eines stilisierten Barock-Straßenprospekts aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum, vor dem die Sänger nah an der Rampe in lebenden Bildern als schwarze Silhouetten erschienen. Die Tiefe des Raums wurde plötzlich zur Fläche, die Fülle der Farben zum scherenschnittartigen Schattenspiel. Dieser gelungenen optischen Brechung fehlte jedoch die musikalische Entsprechung. Denn auch im zweiten Teil sangen bis zu acht Vokalisten unverdrossen weiter gleichzeitig in einer Art Dauerensemble, das zusammenknäulte, was nicht zusammengehört. Erst ganz zuletzt durfte eine einsame Flötenmelodie plötzlich alleine als eben das erklingen, als was sie ursprünglich gedacht war. Und schlagartig füllte sich die eiserne Werkhalle mit einer Intensität an Ausdruck und Atmosphäre, die viel Wehmut atmete über die in dieser Operncollage ach so brillant ins Werk gesetzte Furie der Verschwendung.
MusikTexte 135 – November 2012, 87–88
on: John Cage: Europeras 1&2 (Music Theatre)