1 October 2012, Ursula Decker-Bönniger, OMM Online Musik Magazin
Review (de)
Alles wird gut
Es gibt so manchen Dichter und Komponisten, den das Erwachsenwerden, der Um- bzw- Aufbruch dieser Lebensphase sprachlich und kompositorisch beschäftigt hat. Zum Abschluss der diesjährigen Ruhrtriennale gab's die Uraufführung von Heiner Goebbels' When the mountain changed its clothing zu diesem Thema. Dieses zehnte seit den 1990er Jahren entstandene Musiktheaterstück ist kein Musiktheater im üblichen Sinne. Es ist eine Komposition im eigentlichen Sinne des Wortes, eine Zusammenstellung und Aneinanderreihung verschiedener Musiken, Szenen bzw. Bilder. Und vor allem ist es Musiktheater für und mit dem Vocal Theatre Carmina Slovenica - einem Ensemble, das Gesang, Theater und Bewegung miteinander verbindet. Statt fortlaufender Handlung werden Texte u.a. von Rousseau, Stifter, Gertrude Stein und Alain Robbe-Grillet vorgetragen, bzw. szenisch dargestellt. Statt Statisten, Chor, Solisten und Orchester singt, spielt und agiert ein Chor von ca. 40 slovenischen Mädchen und jungen Frauen. Neben der Perfektion und Konzentration, der Darstellungs-, Sprach- und Gesangskunst des Chores, ist das eigentlich Besondere und Berührende dieser kontrastreichen Zusammenstellung der andere, subjektive, offene Blick. Konzept, Regie und Musik von Heiner Goebbels sowie die perfekte Ausgestaltung seines Regieteams lassen in ritualisiert wirkenden, nahtlos ineinander fließenden Szenen und Bildern den Zuschauer an dem endlos scheinenden Prozess der Persönlichkeitsentwicklung teilhaben, rücken die Bezugspunkte der emotionalen Schwankungen ins Licht: z.B. die Bewusstwerdung der eigenen Wurzeln, die kindlichen Fragen nach dem Warum, Kraft und Geborgenheit in der Gruppe, Mut, Unsicherheiten, Ängste und Fantasien. Es beginnt mittendrin wie nach einem Drama oder Streit. Die Ruhe vor und nach dem Sturm. Die Bühne ist offen, leer, ein Probenraum mit seitlich gestapelten Tischen und Stühlen. Letztere liegen auch umgekippt in der Mitte - aber in Reih und Glied. Ein Summen beginnt, erweitert sich zu einem feinen Netz aus leicht changierenden, dissonanten, clusterartigen Vokalfarben. Dann betritt der Chor sehr langsam, in feierlicher, angstvoller Erwartungshaltung die Bühne diagonal den Raum durchschreitend. Musik, Gestik, Bewegung, Raum und Zeit vereinen sich zu einem ständig wachsenden Spannungsbogen, der sich in einem plötzlich einsetzenden, gemeinschaftlichen Wahnsinnsschrei Bahn bricht. Diesem beeindruckender dramatischer Beginn folgen Szenen, deren Wirkkraft auch aus kehligen, kraftvollen, traditionellen Folkgesängen und Partisanengesängen der Tito-Ära gespeist wird, aus farbkräftiger, nicht an Klischees und Moden orientierter Kleidung, aus Sprechgesängen, Rhythmicals und v.a.m. Auch Brahms Eichendorff-Vertonung "Wohin ich geh und schaue" ist darunter. Zwischendurch orientiert man sich neu - mal durch aufgeregtes Stühle Rücken, mal durch Gehen in verschiedenen Formationen. Die reale Geräuschkulisse wird elektronisch verfremdet und bedrohlich eingefärbt. Und immer wieder der mutige Versuch, aufzubegehren, sich die Welt eigenständig zu erschließen, auf "grüner Wiese" dem Frage-, Antwortspiel als eigenständige, von der Gruppe getragene Person zu behaupten. Passend dazu werden naive, leicht surreale Henri-Rousseau-Zauberwelten entfaltet, Stofftiere entkernt und zu Fantasiewölkchen umfunktioniert. Ein berührendes Musiktheater, das Mädchenträume ernst nimmt ohne ein leichtes, ironisches Augenzwinkern zu vergessen. Einziger Kritikpunkt: Warum wurden die Folk- und Partisanengesänge nicht übersetzt, bzw. übertitelt? Statt dessen hätte man sich die Übertitelung der deutschen und Übersetzung der englischen Texte sparen können. Der Chor singt und spricht mit sympatischem Akzent fantastisch homogen artikuliert und textverständlich. FAZIT Ein beeindruckendes, perfekt einstudiertes, ganzheitliches Musiktheater, das mit Bewegung, Gesang, Theater und Erzählung die Auf- und Umbruchphasen Jugendlicher unter die Lupe nimmt.
on: When the Mountain changed its clothing (Music Theatre)