20 July 2000, Frieder Reininghaus, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)
Was röhrt und plärrt, brüllt und grunzt
Wie es über und unter dem Pflasterstrand klingt: "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels als multimediales Bildermusiktheater in Nürnberg
Die "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels als Klang- und Raum-Installation in Nürnberg: Stadtgeräusche erfüllen dunkle schwere Luft in der Tafelhalle, diesem zum Multikulturzentrum umgenutzten Fabrikgebäude aus den heroischen Zeiten der Metallindustrie. Wortfetzen und Motorgebrumm, stockende Dialoge und zwischenmenschliche Reibungslaute - elektroakustisch gefiltert, gemixt und als Präludium serviert. Dann Licht. Und mit geballter Wucht, scharf skandierend die Skyline der erhöht postierten Blech-Einsatzkräfte. Andrea Molino treibt auch die schwergewichtigen Teile der Orchester-Suite "Surrogate Cities" tänzelnd an. Die Hofer Symphoniker, unterstützt von den Männern an den Reglern, implantieren das über Jahre weg gewachsene, vom Dirigenten für den besonderen Anlass neu zusammenmontierte symphonische Klanggedicht mit sichtlicher Spielfreude in Nürnberg. Heiner Goebbels hatte mit diesem work in progress zunächst den Versuch unternommen, "die Stadt als Text zu lesen, etwas ihrer Mechanik, Architektur in Musik übersetzen". Eigenwillige Stadtporträts also. Freilich nicht nur musikalische Nahaufnahmen und Programm-Musik, sondern Gedächtnisprotokolle eines geschäftigen Stadtbenutzers, der sich ein Sensorium bewahrt hat für das, was über und unter dem Pflasterstrand so klingt - brüllt und dödelt, vibriert und grunzt, scharrt und röhrt, plärrt und mährt und möhrt. Musik des Flanierens und des atemlosen Rennens, der täglichen Hast und des abendlichen Schlenderns. Maschinenlärm aller Stärkegrade, diesseits und jenseits der Grenzwerte von Lärmschutzverordnungen. Und ein Wind geht durch die Häuserschluchten: ein frischer, scharfer Wind. Zehn Sätze tragen mit gattungsgeschichtlichem Regelverletzer-Stolz die Namen der alten Suiten-Tänze - Courante, Gigue, Gavotte; mitunter auch beziehungsreiche Doppeltitel wie "Allemande / Les ruines'' oder "Menuett / L´ingénieur". Ein halbes Dutzend weitere Abschnitte des lose gefügten Werks stützt sich auf Zeilen von Heiner Müller, Paul Auster, Franz Kafka und Hugo Hamilton - über die Sehnsüchte, Ängste, Phantasien und Depressionen in den Städten und den Willen zur Macht, den ihr Bau und ihre Stabilisierung benötigten. Und damit geht es um Verlust und Wiedergewinnen menschlicher Identität in der Stadt. Von den Kämpfen um ihre Nutzung ist nicht die Rede; aber anzunehmen bleibt, dass auch sie den Komponisten und Musik-Mixer animierten. "Jede Stadt ist voll widersprüchlicher Zeichen", betont der Schauspieler, der sich als Erster ins Orchester-Getümmel wagt. Er reflektiert mit Partikeln, die von den Dramaturginnen der Nürnberger Pocket Opera aus Texten von Italo Calvino, Rolf Schneider, Hermann Glaser und vielen anderen zusammenkompiliert wurden: über die Langwierigkeit des Städtebaus, über die Haltbarkeit und Vergänglichkeit der urbanen menschlichen Gemeinschaftsleistungen, über deren Planbarkeit und Anarchie, über Zuwanderung, Unwirtlichkeit und Utopie. Doch schon wieder reißt das Orchester mit seiner suggestiven Definitionsmacht die Verhandlungsführung an sich. Das Kollektiv der Musiker legt sich schwer ins Zeug, um die rhythmische Impulsivität, den Farbenreichtum, die kesse Frische der goebbelsschen Musik freizuspielen. Unbestritten ist es zunächst und für geraume Zeit der Hauptakteur. Was Heiner Goebbels musikalisch verallgemeinerte, wurde nun konkret in Nürnberg angewandt - im Auftrag des Meister-Singer-Festivals. Und fortentwickelt zum "multimedialen Bildertheater": Sarah Derendinger ließ man Häuser-Fassaden filmen: Gründerzeit-Portale und neue Sachlichkeiten, Plattenbeton, Kunststoff-Fenster. Diese Stadtpartikel ziehen auf luftigen Gazevorhängen quer durch die Halle, trennen die Streicher von den Bläsern. Die Schauspieler ergänzen Hinweise auf die Ur-Großbaustelle zu Babel und erörtern, was auf Sand gebaut ist. Der starke Sopran von Elizabeth Lombardini-Smith wölbt sich übers Orchester, die bärenstarke schwarze Stimme von David Moss erhebt sich aus seiner Mitte: urbane Musik, die sich vielleicht nicht so schnell abnutzt. Bevor sie erschöpft, setzt sich die Inszenierung in Bewegung. Das Publikum ins Freie geleitet, lauscht am Rande des Ödlandes hinter der Tafelhalle dem fernen Klang des goebbelsschen Ready-Mades. Zu sehen ist, wie nach dem gescharrt wird, was als Surrogat unter der Oberfläche liegen könnte. Dann schlucken die Busse die Interessierten. Beschallt mit Absurditäten, die auch ansonsten bei Sightseeing-Tours zum Besten gegeben werden, erreichen sie das Reichsparteitagsgelände. Auch da archäologische Bemühungen. Bis Oktober zeigt in der Steintribüne eine Fotoausstellung "Faszination und Gewalt". Im Goldenen Saal hat bereits wieder eine Kammermusik-Formation des Hofer Orchesters Position bezogen. Es fährt - unterm Hakenkreuz-Mäandermuster - mit dem Vortrag der Musik-Portraits fort: dekliniert die "Surrogate Cities" bis zur Neige durch. Immunisiert sich gleichsam durch Hartnäckigkeit gegen das schreckliche Ambiente. Damit hat Nürnberg nach den Industrie- auch die Großmacht-Aspekte seiner Geschichte zur Geltung gebracht. Die Organisation klappte perfekt. Die Busse spedierten, spät in der Nacht, die vielfach gedankenbeschwerten Performance-Teilnehmer an ihren Ausgangspunkt zurück. Die Bürgersteige waren da schon hochgeklappt.
on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)