27 September 2001, Andreas Hillger, Mitteldeutsche Zeitung
Review (de)
Ein Aufbruch in die Gegenwart
Grandioses Sinfonie-Konzert von Heiner Goebbels
Auch wenn es dem Dirigent zwei Stunden später beim Publikumsgespräch glückt, übertriebene Erwartungen ebenso wie unbegründete Befürchtungen zu dämpfen, ist der Auftakt mit den "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels zweifellos programmatisch und polarisierend. Nicht alle Zuhörer können oder wollen dem Orchester auf seinem Schritt in die Gegenwart folgen. Neben frenetisch applaudierenden Weggefährten sieht man am Schluss auch ungerührt schweigende Besucher. Aber solcher Widerstand scheint eher ein Qualitätsbeweis für jenes große Werk, das interesseloses Wohlgefallen kaum zulässt. Der siebenteilige Zyklus des Komponisten Goebbels ist eine unmittelbare Attacke auf die Wahrnehmung, deren Wucht durchaus dem gewählten Thema gleichkommt. Der Lebensraum Stadt in seiner Ambivalenz zwischen Zuflucht und Bedrohung, in seiner Springflut von Aspekten wird hier zu einer Rush Hour gebündelt und zugleich reflektiert: Ein Meisterwerk der Beschreibungen und Bewertungen, die über bloße Illustration oder Impression hinausweisen. Dabei liebt Goebbels, der auch für die Raum- und Lichtregie verantwortlich zeichnet, durchaus den dramatischen Effekt: Mit kaltem Blau oder fahlem Grün senkt er die Temperatur von kühl kalkulierten Passagen zusätzlich, warmes Gold überhöht seltene kostbare Momente. In extremen Steigerungen türmt und verdichtet er Nuancen zum monolithischen Block, um wenig später elektronisch fixierte Alltagsgeräusche durch transparente Klang-Gewebe wehen und von traditionellen Instrumenten variieren oder umspielen zu lassen. Dieses architektonische Prinzip, das zwischen massiven Wänden immer wieder überraschende Ausblicke freigibt, ist eine kongeniale akustische Übersetzung des Stadt-Bildes. Hinzu kommt die Qualität der literarischen Vorlagen, die von der Trauer um den fortwährenden Verlust des Gewohnten bei Paul Auster ("In the Country of the Last Things") über die scharfe Agitation zu Schuld und Verdienst bei Heiner Müller ("Horatier-Lieder") bis zur atemlosen Irritation bei Hugo Hamilton ("Surrogate") reicht. Im warmen Mezzosopran von Jocelyn B. Smith und in der vielstimmigen Virtuosität von David Moss erklingen diese Texte als existenzielle Wortmeldungen in einer berauschenden und beängstigenden Umwelt, die auch in ihren inhumanen Teilen Menschenwerk bleibt. Zwischen Flüstern und Schreien, zwischen unartikulierter Klage und expressiver Improvisation bieten beide Solisten Meisterstücke. Daneben finden sich in der zentralen Suite wenn nicht sentimentale, so doch meditative Inseln, wenn etwa in die Chaconne jüdische Kantorengesänge eingespielt werden. Hier wird das "Surrogat", also das Ersatzmittel Stadt, zum utopischen Ort eines geglückten Zusammenlebens - und spätestens hier greift die Erinnerung an das jüngste Scheitern dieses Traums. Es war selbstverständlich, dass die Diskussion über die Attentate von New York und Washington auch das absolut verdiente Lob für die Philharmonie und ihren außerordentlich präzisen, dabei stets den Musikern und Solisten dienenden Dirigenten im folgenden Podiumsgespräch überschatten würde. Doch weder Heiner Goebbels selbst noch der Bauhausdirektor Omar Akbar mochten aus den tödlichen Treffern in die Nervenzentren der amerikanischen Metropolen ein generelles Scheitern des urbanen Modells ableiten. Akbar sah - noch ganz im Bann des Konzertes - vielmehr die Notwendigkeit, die Potenziale der auch zuvor schon verletzten und gebrochenen Wirklichkeit in den Städten zu erkennen, anstatt einem längst verlorenen Idealzustand nachzutrauern. (Andreas Hillger)
on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)