22 September 2003, Peter Hagemann, Neue Zürcher Zeitung
Review (de)
Am Strand, in der Stadt
Abschluss mit den Berlinern und Simon Rattle
(...) Vergessen wir's - denn das Sinfoniekonzert Nummer dreissig, mit den Berlinern und Rattle, geriet zum krönenden Finale einer ausgesprochen vielfältigen, an Glanzpunkten reichen Ausgabe von Lucerne Festival. Da war nun das Bild radikal anders. Das Orchesterpodium randvoll und bestückt mit einer grossen Perkussion, dafür weit und breit kein Frack. Die Echokammer vollständig verschlossen, auch die Orgel (bis auf die spanischen Trompeten, die durch drei Luken herausragten) hinter Türen versteckt, selbst die Vorhänge waren gezogen. Und im Publikum viel junge , Leute, viel Farbe, gespannte Aufmerksamkeit Angesagt war "Surrogate Cities" für Mezzosopran, Sprechstimme, Sampler und grosses Orchester von Heiner Goebbels, der es wie seine Kollegin Isabel Mundry als Composer in residence ins Sinfoniekonzert geschafft hat. Und in was für eines. Mit kurzen, witzigen Sätzen führte Simon Rattle ins Werk ein, dann wurde es dunkel. Denn "Surrogate Cities" ist auch ein Stück zum Schauen. Light gab es wie in der Show, als Sinnenkitzel, manchmal ein wenig banal, manchmal vielleicht mit tieferer Bedeutung versehen. Und eingesetzt wurde, was Wunder bei Heiner Goebbels, die Saaltechnik; jedenfalls öffneten sich vor dem zweitletzten Teil des Stücks die Wände neben der Orgel, wurden die Vorhänge lautlos eingezogen und wenig später ebenso lautlos wieder ausgefahren. Das ist nicht Spielerei, sondern gehört zum Konzept dieser gewissermassen unreinen Musik, die sich an allen Tischen bedient, stünden sie nun auf der Seite des Ernsten oder jener des Unterhaltenden. Sie tut das freilich mit einem Reichtum an Ideen und einer handwerklichen Fertigkeit, die ihresgleichen suchen. Und dann dieser ausgeprägte sinnliche Reiz. Wie stets bei Heiner Goebbels könnte man auch bei "Surrogate Cities" den raffinierten inhaltlichen Verknüpfungen nachgehen oder sich an der hochstehenden Faktur erfreuen, man kann sich dem Werk aber auch einfach hingeben - kann die Imaginationsräume betreten, die es eröffnet, und die von ihm angebotenen Assoziationsfelder ausschreiten. Wie auch immer, am Ende sieht man sich in einer eigenartigen Weise erfrischt und belebt - ja selbst: beglückt. Angesichts der fulminanten Wiedergabe durch die Berliner Philharmoniker und Simon Rattle ist das kein Wunder. Spielt das tragische Geschehen bei "Idomeneo" am Strand von Kreta, so geht es bei "Surrogate Cities" um die Stadt: um den Dschungel, in dem sich das Individuum nur schwer behauptet, um den beständigen Wandel, der auch verunsichert, nicht zuletzt um Kampf und Gewalt. Mit heftigen Schlägen rammt das grosse Orchester, in dem alle Instrumente elektronisch verstärkt sind, die Horizontalen und die Vertikalen der Architektur ein - und da wird denn gleich deutlich, dass "Surrogate Cities" an diesem Abend eine andere Gestalt annimmt. Das Stück von 1993/94 ist nämlich bekannter in jener kammermusikalischen Version, für die sich das Frankfurter Ensemble Modern stark gemacht hat; im Klanggewand des grossen Orchesters treten neue, vielleicht eher räumliche Züge in Erscheinung. Und die Visualisierung, die das Theater Freiburg vor kurzem zur Diskussion stellte, erweist sich als überflüssig, so plastisch wirkt die Musik. Wenig später schlägt die Stunde von David Moss, der am Mikrofon singt, sprudelt, stottert, hechelt, um Worte ringt - das ist in seiner Kunst Lichtjahre entfernt von dem billigen Populismus, den sich die Wiener Philharmoniker mit Bobby McFerrin geleistet haben. Eine echte Suite, durchsetzt mit den unechten Klängen eines Samplers, bildet das Herzstück und darauf die Geschichte von Hora tius in der Erzählung von Heiner Müller, zugleich aber im Tonfall eines Songs mit Big-Band-Begleitung - grossartig die Sängerin Jocelyn B. Smith, hinreissend das Orchester, das hier rhythmisch voll ins Schwarze traf. Ein super Abschluss; bei Lucerne Festival scheint tatsächlich die Zukunft begonnen zu haben.
on: Surrogate Cities (Composition for Orchestra)