12 October 2007, Kai Luehrs-Kaiser, Die Welt
Review (de)
Weite Ferne, so nah: "Stifters Dinge" von Heiner Goebbels
Zu den letzten, von Film und Theater uneingenommenen Literatur-Bastionen zählen (neben Proust und Pynchon) die Langsamkeitsorgien Adalbert Stifters. Dampfende Natur, Zeitlupen und ein zum Stillstand kommendes Handlungsrinnsal: Wo immer von Präsenz und epiphanischem Stil gefaselt wird, gilt dieser Meister der Ländlichkeit (und "Nachsommer"-Spezialist) als letzte Hoffnung. Er hat gezeigt, dass das Fremde sehr nah sein kann und doch immer fremd bleibt. Heiner Goebbels' neues Stück sollte erst "The Pianopiece" heißen. Dann muss Stifter dazwischen gekommen sein. Dessen impulsgebendes Spät- und Lebenswerk "Die Mappe meines Urgroßvaters" feiert die Illumination einer organischen Ding-Welt als sinnhaft erfahrbare Natur. Das ist schon bei Stifter selbst nicht ganz leicht zu ertragen. Wie bloß bringt man "Stifters Dinge" also aufs Theater? Im Haus der Berliner Festspiele sieht das jetzt so aus: Drei flache Becken, worin Staub, dann Flüssigkeit eingefüllt werden, teilen Klaus Grünbergs Lichtbühne längsseitig. Ein kinetisches Objekt aus fünf Klavieren, die Störgeräusche rhythmisieren (und Bach spielen), sind der akustische Protagonist des Klavierstücks ohne Pianisten. Dazu irritieren Interview-Schnipsel von Claude Levi-Strauss und eine Lesung von William Burroughs. Von oben fahren Dias von Gemälden Ruisdaels und Paolo Uccellos herab. Zunächst ähnelt Heiner Goebbels' Performance ohne Performer einer Maschine der Aktionskünstlerin Rebecca Horn - nur ohne Federn. Wie bei dieser ist der Übergang zum Kitsch fließend. Die mit kolumbianischen Indianergesängen unterlegten, auf Kriechnebel und Musik-Geplätscher (Sound-Design: Willi Bopp) gebetteten 70 Minuten illustrieren den Wunsch, die Dinge möchten endlich ihre Stummheit aufgeben, um direkt zu uns zu sprechen. Leider tritt das nicht ein. Je weniger Goebbels Performance tut, desto mehr will sie. Man nennt das: prätentiös. Ein phosphoreszierender Salzstein - oder ein Zimmerspringbrunnen - hätten dasselbe bewirkt. Anlässlich der Uraufführung vor drei Wochen im Théâtre Vidy-Lausanne falteten viele Kritiker metaphernreich die Hände. Heiner Goebbels' selten langweilige, zumeist unverkrampft innovative Werke (zuletzt "Eraritjaritjaka" nach Elias Canetti) werden von einer treuen Fangemeinde wie Sammlerstücke verehrt. Goebbels ist noch dazu ein Netter. Stets lächelt er beim Schlussapplaus wie ein Rolf Zuckowski der neuen Musik, der ein noch immer kriegerisch vermintes Genre in alle Richtungen versöhnen will. Dass so einer zum Säulenheiligen einer Musik-Avantgarde taugt, ist durchaus ein gutes Zeichen. Denn Goebbels experimentiert oder dekonstruiert nicht mehr. Er versucht zu retten, was zu retten ist. Und die Bruchstücke der Traditionen zu neuem Sinn zu vermitteln. Das alles ändert nichts daran, dass sein Neuestes bei der "Spielzeit Europa" der Berliner Festspiele wirkt wie eine Installation, die von der Documenta abgelehnt wurde. Anspruchsvoll und ein wenig peinlich. Man staunt nur, wie sehr Stifter noch heute zu irritieren und sich gegen Abbildung zu sperren vermag. Im Scheitern hat Goebbels ihm das größte Kompliment gemacht.
on: Stifters Dinge (Music Theatre)