8 October 2007, Dirk Pilz, Berliner Zeitung
Review (de)
Die Entdeckung der Unschärfe
Mit Heiner Goebbels "Stifters Dinge" wurde die Saison von spielzeiteuropa eröffnet
Drei flache Wasserbecken, mehrere Lautsprecher und an der Rückseite eine Apparatur aus ineinander verschachtelten Pianos, die eine surreale Welt aus Klängen, Licht und Stimmen produziert. Das ist "Stifters Dinge", der neueste Streich des Komponisten und Perfomancebastlers Heiner Goebbels. Ein Theater der Dinge, das ein gewieftes Spiel mit dem Abwesenden treibt, ohne Schauspieler, aber von enormer suggestiver Kraft. Die vermeintlich biedermeierliche Dichtung Adalbert Stifter spielt insofern eine Rolle, als eine Passage aus der "Mappe meines Urgroßvaters" eingelesen wird. Vor allem aber ist Stifter der geistige Mentor dieser Theaterinstallation: Seine minutiösen Naturbeschreibungen, die fast mystischen Versenkungseinübungen in das Reich der Dinge transformiert Goebbels in eine hoch verdichtete Bild- und Tonsprache, mit der er die Sphäre des Unsicht- und Unhörbaren auslotet. Stifters Erzählen ist, wie er selbst schreibt, von der "sanft schmerzenden Rückliebe" zu jenen Gegenständen und Landschaften getragen, die dem Menschen seine eigene Vergänglichkeit anzeigen; für Goebbels offenbart sich in der rückwärtsgewandten Konzentration auf die unbelebten Dinge auch die Endlichkeit des Kommenden. Die Sprache der Dinge ist hier auf eine Sterbensmelodie gestimmt. Alles ist hier deshalb vom Wissen um das heillose Rumoren hinter dem Schweigen der Dinge getragen, von Goebbels ahnungsvoller Musik bis zum Unheil verkündenden Licht- und Raumkonzept Klaus Grünbergs. Der Abend gibt Thomas Mann Recht, der bei Stifters "eine Neigung zum Exzessiven, Elementar-Katastrophalen, Pathologischen" wirken sah. Deshalb die brüchigen Arrangements. In einer zentralen Sequenz spielt ein Klavier von Geisterhand Bachs "Italienisches Konzert". Nebelschwaden fliehen durch den Raum, dazu Regen und Dämmerlicht. Kurz bevor man aber in schmachtender Melancholie versinkt, vermeldet von links die Stimme Claude Levi-Strauss', dass es keine guten Gründe gebe, dem Menschen zu vertrauen. Und den Dingen? Sie führen ein Eigenleben und entziehen sich letztlich der Verfügungsmacht des Menschen: Goebbels 80-minütige Session gilt einer Erfahrung, die das Begegnen mit der unbelebten Umwelt als Widerfahrnis begreift. Die Dinge - eine Bedrohung. Aber voller Magie. Am Ende fährt die Pianowand nach vorn und gibt gleichsam den Blick ins Hirn dieser Installation frei. Man sieht die Kabel, Computerfestplatten, die ganze Mechanik. Die Nachbarschaft von Mensch und Ding wird dadurch in ihrer Labilität noch gesteigert, das Magische nicht gebannt. Denn wer die Dinge genau betrachtet, sieht sie nicht besser, sondern erfährt ihre beunruhigende Unschärfe - und trifft auf den Hohlraum der Sinnlosigkeit hinter allem Sein. Goebbels hat ein metaphysisches Drama der Wahrnehmung entworfen. Mit einer radikal modernen Ästhetik. Die Eröffnung der diesjährigen Saison von spielzeiteuropa ist damit auch eine bewusst irritierende Hör- und Sehherausforderung. Inszenierungen von Alvis Hermanis, Fréderic Fisbach oder Grzegorz Jarzyna werden bis Januar noch folgen. Motto: "Paradies jetzt". Goebbels hat seinen Kunsthimmel schon gefunden: im unerschöpflichen Reichtum der Wahrnehmung.
on: Stifters Dinge (Music Theatre)