17 May 2000, Tim Gorbauch, Frankfurter Rundschau
Review (de)
Die Autonomie des Anderen
Heiner Goebbels' "Oder die glücklose Landung"
[...] Zwar findet der Komponist Goebbels seine Musik nie unabhängig von Sprache und Texten, aber was ihn am Wort interessiert;, sind gerade nicht dessen Inhalt und Bedeutung, sondern die verdrängten Ebenen jenseits der Semantik: die strukturellen, formalen und rhythmischen Angebote der Sprache, die ihn zur Musikalisierung auffordern. So sind seine Stücke, von denen er manchmal als eine akustische Inszenierung von Texten spricht, gerade keine psychologisierende Illustration, sondern deren Gegenteil. Die Musik greift nicht auf, sondern sie greift ein: sie zerreißt die Texte, bringt ihre Strukturen und syntaktischen Strategien zum Leuchten und ist dennoch, und das ist das schillernde Geheimnis der Werke Heiner Goebbels', nicht kühl, sezierend und abstrakt sondern hoch assoziativ und voll vibrierender Spannung. [...] Oder die glücklose Landung, basierend auf Textfragmenten von Joseph Conrad, Francis Ponge und Heiner Müller, ist eine Annäherung an das Andere, das Fremde, eine Reise in eine ferne Welt, die mit Conrad in den Kongo und mit Müller und Ponge in die Bedrohlichkeit des Waldes führt. Welten, Kulturen, Traditionen prallen da zusammen, und Goebbels will die Widersprüche gerade nicht auflösen. Der Blick, mit dem Goebbels das Andere betrachtet, ist nicht kolonialistisch, sondern respektiert dessen Autonomie. Daraus resultiert eine Ästhetik des harten Schnitts und der konstituierenden Heterogenität. Eruptive, gewaltsame Akkorde des Keyboards, schwere, metallene Riffs der E-Gitarre fressen sich in den Text hinein, Free-Jazz-Zitate, harte, fast Dancefloor-artige Beats durchziehen und strukturieren das Stück, dessen Sprache Ernst Stötzner mit einem kontrollierten, fast objektivierten rhythmischen Ton vorträgt, der die Worte Conrads, Ponges und Müllers vom semantischen zum musikalischen Bedeutungsträger umdeutet. Und dazu blendet Goebbels, als das musikalisch Andere, immer wieder alte afrikanische Gesänge ein: schlichte Weisen der Senegalesin Sira Djebate zu minimalistisch anmutenden patterns, die ihr Ehemann Boubakar an der Kora, einer Art Harfenlaute beisteuert. Griots heißen diese Musiker, die alte Mythen sammeln und sie in Tönen aufbewahren, als Garant der eigenen Geschichte und als kulturelles Gedächtnis ganzer Stämme und Völker. Gegen Ende des neunzigminütigen Konzerts finden die disparaten Welten immer mehr zusammen, überlappen und verzahnen sich. Aber Goebbels schaltet sie nicht synchron, sondern lässt sie weiter frei laufen, unbeschädigt in ihrer je eigenen Vielfalt. Eine Vielfalt, die sich in der Simultanität geradezu potenziert und dabei ihre Rätselhaftigkeit nicht preisgibt.
on: Ou bien le débarquement désastreux (Music Theatre)