1 October 2014, Andreas Falentin, Deutsche Bühne
Review (de)
Die Opulenz der Reduktion
In seinen drei Spielzeiten hat Heiner Goebbels die Ruhrtriennale auf seine ganz eigene Weise neu definiert als eine wirkliche Alternative zum Programm der umliegenden Theater
..."Im Musiktheater geht es Heiner Goebbels um die „Beschäftigung mit den wegweisenden strukturverändernden Opernkonzepten des 20. Jahrhunderts“. So standen keine Uraufführungen im Fokus seiner Intendanz, sondern Wiederbegegnungen. In diesem Jahr nahm sich Goebbels Louis Andriessens seit der Uraufführung nicht mehr gespieltes Musiktheater „De Materie“ vor und ging dafür in die 160 Meter tiefe Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark Nord. Man spielt im riesigen leeren Raum, der so dominant ist, dass aus der vom Ensemble Modern fantastisch artikulierten Musik ein passgenauer Soundtrack wird. Auch diese Produktion wird bestimmt vom überwältigenden, die Kunst des Weglassens mühelos beherrschenden, manchmal fast keimfrei wirkenden Ästhetizismus von Goebbels’ Bühnen- und Lichtdesigner Klaus Grünberg. Bemerkenswert ist, gerade bei einem Festival, das sich stark mit filmischen Mitteln auseinandersetzt, der überwiegende Verzicht auf Projektionen. Bemerkenswert auch der Mut zur Sanftheit, zur Langsamkeit, mit der die Bilder wie auf Schienen ineinanderfließen.
„De Materie“ besteht aus vier Teilen, die sich mit der Beziehung von Geist und Materie befassen und dafür hauptsächlich Material aus der niederländischen Real- und Kulturgeschichte verwenden. Die Texte sind hörbar nicht in narrativer Absicht kompiliert, sondern wollen eine Raum-Klang-Architektur initiieren,wollen nicht bedeuten, sondern Impulse geben für Bilder und theatrale Prozesse. Die überwiegende Menge der Zuschauer erfreut sich an der bläserdominierten, oft zu Schlägen fragmentierten, dann wieder zu Tanzrhythmen gebündelten Musik, am Einfallsreichtum, an der Eleganz der Bilder. Wer verstehen will, gar Interpretation bewerten, greift ins Leere.
Versucht man etwa zu ergründen, warum da eine 400-beinige Schafherde über die Bühne laufen muss, die von einem sanft kreisenden, erleuchteten Zeppelin zusammengetrieben wird wie von einem Hütehund, oder warum derselbe Zeppelin in der ersten Szene über weißen (Flüchtlings-?)Zelten schwebt, dann verlässt man den Abend unzufrieden. Der Zuschauer muss sich seinen Sinnen überlassen und sich hineinbegeben in seinen eigenen Assoziationsrahmen. Er muss den Bildern gleichsam unbefangen gegenübertreten, den Zeppelinen, die (fast) alles symbolisieren könnten, den Mondrian-Pendeln mit den ständig die Farbe wechselnden Scheiben und den bleistiftklein wirkenden Boogie-Tänzern darunter, der mittelniederländische Klänge fast körperlos versendenden Nonne in der spärlich möblierten, von gestaltlosen Statisten bevölkerten Riesenkirche.
Die Ruhe, mit der diese Bilder und Monologe entstehen und sich entwickeln, ihre subtile, kaum fühlbare Dynamik birgt natürlich die Gefahr, als schöne Leere wahrgenommen zu werden, die dann den Zuschauer aus „seinem“ Stück herausreißt oder - auf ganz angenehme Weise - ein wenig schläfrig macht. „De Materie“ ist sehr erlebenswert und darf als Weiterentwicklung der karg-fröhlichen Klanginstallation „Delusion of the Fury“ und des charmant ordentlichen Bilder- und Tongewühls der „Europeras“ betrachtet werden, konsequent vor allem in der ins Extrem getriebenen Opulenz der Reduktion." ....
on: Louis Andriessen: De Materie (Music Theatre)