3 May 2013, Bettina Kneller, Main-Echo
Review (de)
Die Musik als Antwort auf alle Fragen
Heiner Goebbels »Landschaft mit entfernten Verwandten« im Bockenheimer Depot Frankfurt
Einsam sitzt Dietmar Wiesner auf einem Stuhl und spielt auf einer chinesischen Bambusflöte. Der Musiker formt die klagenden Laute, die wehmütige Melodie so klar, so wahrhaftig, dass sich die Töne und der Tanz der sich vor ihm schneller und schneller drehenden Derwische zu einer einzigartigen Sequenz vermischen. Es ist das Bild der Inszenierung, die vor visuellen und klanglichen Impressionen nur so strotzt.
Heiner Goebbels hat seine Oper »Landschaft mit entfernten Verwandten« 2002 in Genf uraufgeführt. Jetzt hat der Komponist sie für Frankfurt neu gefasst, im Bockenheimer Depot wird sie gezeigt. Zusammen mit einem auf vielen anderen Gebieten außer dem Musizieren begabtem Ensemble Modern, dem Bariton Holger Falk und dem Schauspieler David Bennent gelingt ein Abend, der entführt in fremde Sphären und ferne Zeiten.
Von der arabischen Welt in die europäische, von der Barockzeit bis in die Gegenwart spielt der Regisseur alle Register durch und zeigt die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen den verschiedenen Kulturen. Beginnend mit einem riesigen Gemälde von Nicolas Poussin, vor dem ein Orchester in schwarzen Kampfmonturen musiziert, über Riesen-Marionetten, die an Seilzügen von den Musikern bewegt werden, und nachgestellte Schlachten mit hölzernen Burgen, die in Feuer aufgehen, bis hin zu Mönchen, die stumm in einem heiligen Tempel Glocken anschlagen, und amerikanischer Siedler-Romantik zu Banjo und Gitarre: Der Clash of Culture ist allgegenwärtig bei Goebbels. Das spiegelt sich auch in seiner Komposition wieder, die das Ensemble Modern unter Franck Ollu mustergültig interpretiert.
Die Bilder wechseln schnell und mit ihnen die Stimmungen. Der Zuschauer wird in Goebbels Universum durch nahezu alle Stadien gejagt. Mal ist es poetisch und von stiller Schönheit, dann wieder zum Brüllen komisch. Genauso schnell müssen die Musiker in ihre verschiedenen Rollen schlüpfen. Das Ensemble Modern kann zeigen, was in ihm steckt - und dass es ein Orchester ist, dass mehr als nur hervorragend musizieren kann.
Was alle Bilder eint, ist ihre unglaubliche Kraft, ihre Ausstrahlung, der man sich nur schwer entziehen kann. Verbunden mit Texten von Gertrude Stein, Giordano Bruno, T.S. Eliot und Michel Foucault und Goebbels sphärischer Musik entsteht eine traumwandlerische Stimmung, die den Betrachter zu einem Reisenden zwischen den Zeiten und Welten macht.
Mal fühlt er sich mittels Musik mitten unter Sufis irgendwo im Orient, dann wieder wähnt er sich in der Rokoko-Epoche in Europa. Der Schluss ist konsequent, lässt keine Fragen offen: In weiße Mäntel gehüllte Gestalten gehen in einem blau ausgeleuchteten Raum in die Hocke und stimmen Klangschalen an, bis der ganze Raum vibriert und tönt.
Die Gegenwart kennt nur noch die Frage nach dem Ich, nach dem Einzelnen, der sich verloren fühlt in der Welt. Und der Erfüllung und innere Ruhe in der Musik findet. Was könnte als Ende für eine zeitgenössische Oper besser passen als diese Szene?
on: Landschaft mit entfernten Verwandten (Music Theatre)