3 May 2013, Hans-Jürgen Linke, Frankfurter Rundschau
Review (de)

Wo bleibt unsere schöne Ordnung?

Die Oper Frankfurt zeigt Heiner Goebbels' Landschaft mit entfernten Verwandten in einer gestrafften Fassung

Eine Geschichte braucht ein Zentrum,
braucht einen Plot, daran sind wir gewöhnt.
Das Zentrum einer Geschichte ermöglicht
die Unterscheidung zwischen Haupt- und
Nebensachen und schafft Stringenz. Ein
Stück wie Heiner Goebbels' "Landschaft
mit entfernten Verwandten", das die Oper
Frankfurt jetzt in einer neuen ("Frankfurter")
Fassung im Bockenheimer Depot zur
Premiere brachte, erscheint dann eher als
schwierige Aufgabe für das Publikum.
Denn das Zentrum ist hier leer. Beziehungsweise:
Der Zuschauer soll sich seinen Plot,
sein Zentrum selbst suchen, in Anschauung
des Materials.
Das Material aber ist, mit großer Sorgfalt
und erheblichem handwerklichen und technischen
Aufwand und Vermögen, so präsentiert,
dass es ein unhierarchisches Nebeneinander
bietet und also unverbundene Reaktionen
provoziert: Lachen über einen verwirrenden
Scherz in einem Text von Gertrude
Stein, fasziniertes Unverständnis bei
einem nicht übersetzten indischen Lied, Befremden
über einen Auftritt des Ensemble
Modern als tanzende Derwische, Betroffenheit
über eine kalte Anweisung Leonardo
da Vincis, wie ein Schlachtgemälde zu erstellen
sei.
Alles befindet sich in der gleichen Entfernung
zum Plot, den niemand kennt und der
vielleicht nicht existiert. Wer in diesem
Kontext das gute alte Plot-Bedürfnis nicht
loslassen kann oder mag, verfällt in ein
mehr oder weniger heiteres Plot-Raten. Der
Autor wird ja wohl nicht gänzlich auf das
Zentrum der Geschichte verzichtet haben,
er hat es nur verborgen, sollte man meinen.
Also: Such den Plot, es muss einen geben!
Das ist eine Falle, die das post-dramatische
Theater für seine Zuschauer bereit hält.
In diesem Fall handelt es sich sogar um
post-dramatisches Musiktheater, denn bei
Heiner Goebbels gesellt sich zu den markanten
Tableaus und den umsichtig ausgewählten
Texten immer noch allerlei Musik
- ohne stilistisches oder idiomatisches Zentrum
- sowie eine Haltung des Komponisten
zu dem, was auf der Bühne geschieht. Es ist
eine Haltung, die keinen Handlungsstrang
in den Vordergrund stellt, die an Texten oft
ihre Fremdheit und ihren Klang genau so
schätzt wie ihre verstehbaren Bedeutungen.
Wo bleibt dann unsere schöne Ordnung,
fragt Giordano Bruno im Stück, diese Stufenleiter
der Natur, auf der man emporsteigt?
Auch ohne die unerbittliche Schönheit hierarchischer
Ordnung bleibt in Heiner Goebbels'
"Landschaft" viel Raum für Schönheit.
Es gibt eine intensive, gelassene
Schönheit der Bildwirkungen, die ein gleichförmiges
Tempo wählt und großzügig Zeit
für das Auskosten und Erschließen gewährt.
Es ist eine Schönheit, die manchmal
in einer grotesken Untertreibung erscheint,
etwa in einem Spiel mit kleinen, roten Kugeln,
die von einer Ritterburg-Stadt zur benachbarten
Ritterburg-Stadt geschleudert
werden und ein vernichtendes Feuer in der
einen Ritterburg-Stadt zur Folge haben.
Es ist die Schönheit einer sarkastischen
Wendung, wenn hinterher Trümmerfrauen
mit Kehrschaufel und Staubwedel zum Aufräumen
kommen. Die abweisende Schönheit
von Arabesken an den Wänden, die
ernsthaft-ironische Schönheit eines Hillbilly-
Ensembles, das unter Verzicht auf jeglichen
konzertanten Gestus "Out Where the
West Begins" singt und spielt. Die Schönheit,
riesiger, wild tanzender Gestalten, die
aus großen Kästen gezogen werden. Die
Schönheit einer Bilderfolge, deren Konsequenz
weder vorgezeichnet noch zufällig erscheint.
Die "Landschaft mit entfernten Verwandten"
entstand vor einem guten Jahrzehnt und
lehnt sich in einigen ästhetischen Prinzipien
an den Maler Nicolas Poussin und dessen
gleiche Verteilung künstlerischer Aufmerksamkeit
über seine Landschaften an.
Gegenüber früheren Fassungen kommt die
aktuelle Frankfurter Version mit einer guten
Stunde Spieldauer weniger aus. Das
Stück ist damit präziser und zügiger geworden
und zugleich persönlicher. Sein reflektierender
Gestus, seine bildhafte Intensität
tritt prägnant zu Tage, und es hat ein lebendiges
kooperatives (also keineswegs leeres)
Zentrum: Eine Haltung, die man bei den
Künstlern des Ensemble Modern findet, die
keinen Wert auf strenge Arbeitsteilung legen,
die singen, spielen, darstellen, tanzen
und den Bühnenarbeitern beim Auf- und
Abbauen helfen. Beziehungsweise: Sind
das nicht vielmehr Darsteller von Bühnenarbeitern?
Alles geschieht auf der Bühne mit
einem Gestus der Aufrechterhaltung einer
Distanz, wie sie Brecht von seinen Schauspielern
forderte. Auch von David Bennent
und dem Bariton Holger Falk. Kostüme
(Florence von Gerkan) sind eher Elemente
des Bühnenbildes (Klaus Grünberg) als Versuche,
Identitäten zwischen Darsteller und
Dargestelltem vorzuspiegeln.
Und schließlich hat das Ganze auch ein
nachdrückliches Element von Ordnung, und
das ist: Rhythmus. Alles, was geschieht,
hat rhythmische Struktur. Besonders die
Musik (Leitung: Franck Ollu) kommt immer
wieder mit starker rhythmischer Markanz
daher. Die Rhythmen der Musik und
der Bilder-Arbeit bilden eine Repräsentation
des Absichtsvollen in der "Landschaft",
die Strukturierung eines allgegenwärtigen
Hintergrundrauschens möglicher
Bedeutungen.
Und vielleicht hat Heiner Goebbels ja
doch ein bedeutungsgebendes Zentrum verborgen.
Es könnte dabei um den Krieg gehen,
um den Gertrude Steins "Wars I Have
Seen" kreist. Um Krieg als die Geschichte
permanent begleitendes Moment der Destruktion,
der Dekonstruktion, der Unordnung
und zugleich als Quelle einer militärischen
Überbetonung entleerter Ordnungsmuster. Dann wäre Heiner Goebbels'
"Landschaft mit entfernten Verwandten"
auch ein Plädoyer für anti-kriegerische Unordnung

on: Landschaft mit entfernten Verwandten (Music Theatre)