25 August 2003, Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung
Review (de)
Die Perspektive des Hörers
Heiner Goebbels - präsentiert vom Ensemble Modern
Aus den Lautsprechern ist ein Sprecher zu vernehmen, der den Schluss der Kurzgeschichte «Schatten» von Edgar Allen Poe liest: Den Überlebenden einer Pestseuche erscheint ein Schatten, in dessen Tonfall sie schaudernd die Stimmen der dahingerafften Freunde erkennen. Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern setzen sich verstreut auf die Bänke des verdunkelten Bühnenraumes. Mit stilisierten Bewegungen beginnen sie zu spielen, doch es erklingen nur geräuschhafte Fetzen. Das seitliche Scheinwerferlicht lässt lange Schatten entstehen. Auch oben an der Bühnenrückwand ist ein Schatten zu sehen. Plötzlich kracht der Bühnenrahmen herunter, alle erstarren. Katastrophe? Jedenfalls das Ende. So hört das Musiktheater «Schwarz auf Weiss» von Heiner Goebbels auf, das die Werkschau wichtiger Kompositionen des diesjährigen «composer in residence» am Lucerne Festival eröffnete. Dass sich die verschiedenen Elemente in der Schlussszene so eindeutig dem vorgetragenen Text unterordneten, war ein Extremfall der Aufführung. Denn Goebbels sucht sowohl als Komponist wie als Regisseur das Illustrative und das Hierarchische zu vermeiden. In der Tat führten Text, Musik, Bühnenbild, Licht und Szene ein starkes Eigenleben. Trotz den rezitierten Texten gibt es in «Schwarz auf Weiss» keine narrative Struktur. Die Akteure sind die achtzehn Instrumentalisten des Ensembles, und ihre «Handlungen» bestehen vornehmlich im theatralischen Bedienen ihrer Instrumente: auspacken, aufstellen, einrichten, spielen, wegräumen. Dabei bläst eine Streicherin auch mal in ein Horn, oder die Bläser werfen mit Tennisbällen nach der grossen Trommel. Dieser Performance-Charakter - die Musiker brachten ihre Individualität so lebhaft ein, dass Werk und Aufführung weitgehend ineinander verschmolzen - bildete das stärkste Erlebnis des ersten Abends. Die musikalischen Merkmale der Handschrift von Goebbels, die bei «Schwarz auf Weiss» zu hören waren, zeigten sich auch beim Porträtkonzert des zweiten Abends, wenngleich in unterschiedlichen Spielarten. Goebbels' Musik klingt polystilistisch; ihre Ahnen sind nicht primär bei der deutschen Nachkriegs-Avantgarde zu suchen, sondern im Free Jazz, bei der Improvisation, der Popmusik, der Politmusik Hanns Eislers und der traditionellen Kunstmusik. In der Ensemblefassung «Industry and Idleness», bei der der Dirigent Franck Ollu das gross besetzte Ensemble Modern sicher durch die rhythmischen Klippen führte, sind diese Stilschichten eng miteinander verflochten. Schräges und Schönes waren gleichzeitig zu vernehmen, so etwa die flatterhaften Töne einer Trompete und die langgezogenen Terzenparallelen zweier Oboen. Oft lässt sich Goebbels von einem literarischen Hintergrund inspirieren. Im Fall des Stücks «La Jalousie» nach einem Roman von Alain Robbe- Grillet führt dies zu einer mehr angedeuteten als ausgeführten Semantik, während sich der Inhalt des Stücks «Herakles 2», der Kampf des Helden gegen die Hydra, in einer Musik niederschlägt, die immer mehr ins Stolpern gerät und am Schluss auf einem endlos wiederholten Ton der Trompete endet. Solchen autoritär gesteuerten dramatischen Entwicklungen misstraut Goebbels zwar in der Theorie, doch in der Praxis lässt er sie gelegentlich zu. In den «Bildbeschreibungen», die zum Schluss des zweiten Abends uraufgeführt wurden, greift er das Thema des Autoritären sogar explizit auf. Das Werk stellt sozusagen ein Abfallprodukt seiner 2002 entstandenen Oper «Landschaft mit entfernten Verwandten» dar. Gegenstand der Oper und der Suite sind Bilder, vorwiegend Landschaften, in denen die Maler kein Zentrum festgelegt haben und der Betrachter sich seine eigene Perspektive zurechtlegen kann. Wer bei «Bildbeschreibungen» eben diese Freiheit für sich beanspruchte, konnte vermutlich den grössten Gewinn verbuchen.
on: La Jalousie (Composition for Ensemble)