8 March 2001, Eric Dahan, La Liberation
Review (de)
Hashirigaki: High-Tech-Skizzen
Ein verblüffendes, multimediales Stück des Deutschen Heiner Goebbels, mit Texten von Gertrude Stein und der Musik der Beach Boys. Über dem Genfersee neigt sich der Tag seinem Ende zu. An Tischen auf dem grossen Rasen am Ufer warten die ersten Zuschauer geduldig und genehmigen sich genüsslich ein Glas. Im Théâtre Vidy-Lausanne, wo die Uraufführung von Heiner Goebbels neuem Stück Hashirigaki (japanisch Skizzen machen) stattfindet, ist man Grossartiges gewohnt, von Brook bis Wilson. Mehr underground als die beiden Regie-"Klassiker" des Welttheaters, ist Goebbels auch Musiker und erinnerte kürzlich mit Max Black und Eislermaterial an seine Beherrschung der Inszenierungskunst von Text, Musik, Gesten und Licht. In seinen Inszenierungen werden die Karten neu verteilt, Fragen neu gestellt und die Voreingenommenheit des Theater hinterfragt. Aber hier enthüllen wir schon den Schwerpunkt von Hashirigaki, das uns die Augen aufreisst, die von den Bildern des Tages zu Tode gelangweilt fast zufallen, und das Gehör öffnet für noch nie dagewesene Tonarten, Frequenzen und Klänge. Über die Niedergeschlagenheit. Hashirigaki ist eine unbefangene, spielerische Reise, die mehr verblüfft als sie zum Nachdenken auffordert, und am Ende der Reise ist man leicht amüsiert. Doch man weiss nicht so recht weshalb. Man ahnt zwar den Grund der Heiterkeit ein bisschen, denn Hashirigaki ist ein lustvoll verrücktes Stück über die Niedergeschlagenheit und die menschliche Fähigkeit sich zusammen zu tun, sich Dinge vorzustellen und zu träumen, um sich selbst zu retten. Gertrude Steins The Making of Americans ist der Ausgangspunkt. Die unkonzentrierte Schreibweise der Amerikanerin mit deutsch-jüdischen Wurzeln (1874 in Pennsylvania geboren und 1964 in Paris gestorben) versteht sich leicht, wenn man weiss, dass sie während Steins häufigen Zusammentreffen mit Matisse, Picasso, Braque, Apollinaire, Tzara und Satie geschaffen wurde. Es ist eine Schreibweise, die tanzt, schräge Perspektiven eröffnet, Motive wiederholt, mit ihren Farben das Zentrum des Unbewussten berührt, eine Schreibweise, die immer in saturnischem Licht erstrahlt. "Ich horche, ich fühle, ich sehe immer die Wiederholung, die sich bei allen offenbart (...), die Gesamtheit eines Lebewesens, die jedoch auf eine Art und Weise eine Ansammlung von Stücken ist; dies schafft kein Ganzes. (...) Wiederholen, wiederholen und wiederholen, beginnen und beenden, jung sein, weniger jung sein, dann altern, dann aufhören zu existieren, all dies finde ich in mir selbst, ich erfasse es. Das Verhältnis zwischen dem Sein und dem Nachdenken über das Sein, zwischen Existieren und Leben, zwischen dem, was wir lernen und den Dummheiten, die in allen von uns stecken, all das ist jetzt in mir, gut wahrnehmbar, und ich warte." Tai Chi in der Nacht. Man könnte den Reichtum und die Dichte dieses Textes bis ins unendliche erörtern, was ihn vom Performativen und vom Konstatierten abhebt, wie er Poetisches, Analytisches, Moralisches, Metaphysisches und Politisches in eine Gleichung einbringt. Und eben diesen destruktiven Stil hat Goebbels zur Inszenierung ausgewählt. Drei Frauen in Müllmänneroveralls, Tai Chi nachts in einem Wald. Auftritte und Abgänge in einem höllischen Tempo. "Ich werde dies tun, du wirst dies tun, und sie wird dies tun." David Lynchs 60er Jahre und Bob Wilsons Zen-Verblüffung durch den Techno-Katalysator (Videobeleuchtung, Tonverteilung im Raum) getrieben - das bedeutet, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers durchgehend erregt ist. Ausserdem ergeben sich mysteriöse Verbindungen zwischen einem Playback von God Only Knows der Beach Boys, einer Art Delphine Seyrig unter Einfluss von Ecstasy und einer Japanerin, die Glockenklänge auf einem Instrument spielt, das vom Himmel fiel. Die Kindheit so hoffnungslos verloren wie das Licht von Magritte, erstickendes Aussersichsein, das trifft wie ein Blitz, das unmögliche Kontrollieren und Dirigieren der Wiederholung und der Unterschiedlichkeit - das ist es, was Hashirigaki mit seiner gestalterisch und technologisch perfektionistischen Inszenierung, der Virtuosität der drei Schauspielerinnen/Musikerinnen/Sängerinnen und dem sparsamen Umgang mit der Kontamination zum glühenden Erstrahlen bringt. Einige werden jubeln, weil ihnen während des Bruchteils eines Tons die Überlappung von überraschenden Tonarten und Tonleitern anvertraut wird, andere werden beim Anblick ihrer eigenen Manien in nicht mehr zu stoppendes Lachen ausbrechen, Schräges und Bizarres mit Ironie und Wohlwollen entschärft. Ohne Zweifel wird Hashirigaki auch Fans haben, die sich weder für Literatur, noch für Kennermusik, auch nicht für das Theater oder High-Tech-Design interessieren, sondern das Stück wie einen genialen Film sehen werden.
on: Hashirigaki (Music Theatre)