31 December 2002, Gerald Siegmund, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Review (de)
Aus Instrumenten eine Stadt gezaubert
Heiner Goebbels zeigt sein Musiktheaterstück "Hashirigaki" im Schauspiel Frankfurt
Für einen Moment bleiben die Musikinstrumente verlassen auf der Bühne zurück, bevor sie auf wundersame Weise verwandelt werden. Drei Frauen in geometrisch ausgestellten Röcken tragen aus Pappe gefertigte Häuser auf die Bühne, einen Kirchturm, eine Fabrik, aus deren Schornstein kleine Wölkchen aufsteigen. Das Theremin, das eben noch mit seinen gleitenden Tönen die Luft in Bewegung versetzte, verschwindet ebenso wie die japanische Zitter hinter einer Hauswand, Auf das indische Harmonium wird kurzerhand ein Dach gesetzt, der Gong wird zum Vorderrad eines Autos umfunktioniert, das Glockenspiel mit seinem verzierten Gestell ziert die Fassade eines Hauses, und die Trommel landet auf dem Dach eines Turmes, bis eine ganze kleine Stadt entstanden ist, die wie auf Wölkchen gebettet über die große Bühne des Frankfurter Schauspielhauses schwebt. In Heiner Goebbels Musiktheaterstück "Hashirigaki", das nach seiner Premiere vor zwei Jahren in Genf nun endlich auch in Frankfurt zu sehen ist, ist diese Stadt aus Musikinstrumenten auch ein treffendes Bild für die Klangarchitektur, um die es Heiner Goebbels hier geht. Vieles, was an diesem Abend zu hören ist, ist eine szenische Erweiterung des an Zwischentönen reichen Klangspektrums der epochalen Platte der Beach Boys, "Pet Sounds", die im Sommer 1966 mit ihren weichen, transparenten Klängen, die sich zu einem ebenso dichten wie filigran abgestuften Klangraum überlagern, den musikalischen Entwicklungen der Beatles um Haaresbreite voraus war. In "Hashirigaki" verbindet Goebbels das Hängende, Schwebende der Musik der Beach Boys mit dem Unabgeschlossenen, Offenen der Sätze von Gertrude Stein. In ihren "Landscape Plays" beschwor die Mutter der amerikanischen Avantgarde die Erfahrung eines endlosen Schreibens ohne dramaturgischen Anfang und zwingendes Ende, ein stetes Mittendrinsein in der Landschaft. "Hashirigaki" meint sowohl das eilig Aufgeschriebene, flüchtig Skizzierte als auch das rasche Davoneilen, was den Grundgestus der Szenenfolge bestens beschreibt. Leicht hingetupft wirkt hier alles, in die Schwebe gebracht durch die Mittel des Theaters, die ständig in Bewegung sind. Natürlich denkt man bei Gertrude Stein sofort an die beiden Inszenierungen ihrer Texte von Robert Wilson, ein Eindruck, der sich bei Heiner Goebbels und Klaus Grünbergs üppigen Lichtspielen auf den ersten Blick zu bestätigen scheint. Vor dem Halbrund, das die Bühne des Frankfurter Schauspiels nach hinten begrenzt, sitzt die japanische Musikerin Yumiko Tanaka und zupft das Shamisen, ein traditionelles japanisches Saiteninstrument. Plötzlich wird ihr der gelbe Umhang, der ihr über der Schulter liegt, wie von Geisterhand entrissen und schwebt gen Himmel, woraufhin sich der Bühnenprospekt gelb färbt. Hastig dahingekritzelte Striche werden auf die Bühne projiziert, ein von Blitzen durchzucktes Universum, in dem die Umrisse der Darstellerinnen mit dem Hintergrund verschmelzen, riesige Schatten ihre Konturen vergrößern, bis sich die Farben umdrehen, der Hintergrund sich satt grün, die weißen Anzüge der Frauen tief violett einfärben. Bei allen optischen Tricks, die an Wilson erinnern mögen, zwingt Goebbels seine drei Darstellerinnen jedoch nie in ein vorgefertigtes Gestenkorsett. Inmitten des genau durchkomponiertem Zusammenspiels von Farben und Formen können die drei ihre verschiedenen Temperamente bestens entfalten: Die hochgewachsene Charlotte Engelkes gibt die entrückte, ätherisch Kühle, Marie Goyette die sinnlich Verführerische, die mit koketten Seitenblicken das Publikum um den Finger wickelt, und Yumiko Tanaka, deren Präzision stets auch etwas Komisches hat, bildet das stabile Rückgrat der Inszenierung. So wie Steins Sätze mit ihren rhythmischen Wiederholungen von Worten, die oft wie grammatische Übungen klingen, immer auch Reflexionen auf das Schreiben während des Schreibens sind, ist auch Heiner Goebbels' Stück ein spielerisches Nachdenken über die Möglichkeiten des Theaters. Das macht den nicht geringen Zauber des Abends aus. "Hashirigaki" ist darüber hinaus aber auch eine brillant funkelnde Theater-Wunderkiste, die, angefangen von dem traditionellen roten Samtvorhang, der zu Beginn die Bühne verdeckt, mit allen nur erdenklichen Konventionen spielt, um unsere Augen und Ohren mit Farben und Klangfarben zu betören. Wenn am Ende die drei Damen "l Just Wasn't Made For These Times" anstimmen, bevor das Theremin das Lied mit krachendem Donner abwürgt und das Licht erlöscht, bemerkt man, daß man in der Tat für 90 Minuten mittendrin war in einer Landschaft aus sagenhaften Bildern, die berühren.
on: Hashirigaki (Music Theatre)