10 June 2008, Eva Behrendt, Frankfurter Rundschau
Review (de)
Veränderte Wirklichkeit
Der Stadterkundungsparcours "X Wohnungen" ist zum Exportschlager geworden
Zwei Balkone im 17. Stock des Gropiushauses. Auf dem ersten wird der Besucher gebeten, auf ein kleines Podest zu steigen und von erhöhter Warte durch das rechteckig in die gewölbte Betonwand geschnittene Fenster auf die Stadt zu blicken: Vorne die ursprünglich vom Bauhaus-Architekten Walter Gropius entworfene Siedlung, am Horizont die hitzeflirrenden Wahrzeichen der Hauptstadt. Auf dem zweiten Balkon ein flacher Stuhl, von dem aus nichts als Himmel zu sehen ist: Sommerwolken, ziehende Flugzeuge, quer schießende Schwalben. Dazu eine bedrohlich dräuende Soundcollage. Den winzigen Perspektivwechsel mit enormer Wirkung hat der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels für den Stadterkundungsparcours "X Wohnungen" inszeniert. Auf beiden Balkonen überrascht die Plastizität, die ein (Fenster-)Rahmen dem Angeschauten verleiht, aber auch, was das Betrachtete im Betrachter auslöst: Beim reduzierten Himmelsblick lehnt man sich locker zurück und beobachtet, was sich da oben alles tut. Das wirre und starre Stadtpanorama dagegen ist keine fünf Minuten lang auszuhalten, man steigt vom Podest und studiert Graffitis an der Wand: "Ich liebe Polen", steht da, und: "fuck the rest". .... Auch wenn sich das wechselvolle Spiel zwischen Vorgefundenem und Hinzugefügtem selten so schön verdichtete wie bei Heiner Goebbels: Das, wovon seine Balkoninstallation so schlagend wie einfach erzählt, geschieht trotzdem einen ganzen Spaziergang lang. Kleine Standortwechsel verändern die Wirklichkeitserfahrung.
on: Genko-An 12353 (Gropiusstadt 2008) (Installation)