14 April 2009, Tim Gorbauch, Wiesbadener Kurier
Review (de)
Die Schönheit des Denkens
"Eraritjaritjaka" von Heiner Goebbels im Schauspiel Frankfurt
Am Anfang ist es ein Konzert. Die Bühne ist schwarz, vier Musiker treten auf, ein Streichquartett. Sie geben Schostakowitsch, und die musikalischen Linien füllen den Raum, die Sinne. Dann, der Satz ist zu Ende, die Musik schweigt, öffnet sich zunächst ein weißer Schlitz auf dem Theaterboden, der sich allmählich zu einem leuchtenden Quadrat weitet. Schließlich Auftritt des Schauspielers, André Wilms. Er zitiert Texte von Elias Canetti: "Ich habe keine Töne, die mir zur Beruhigung dienen, keine Gambe wie sie, keine Klage, die niemand als Klage erkennt, weil sie verhalten klingt, in einer unsäglich zarten Sprache." Ungeheure Konzentration Es ist eine ungeheure Konzentration spürbar. Musik, Raum, Licht, Text, all das wird nacheinander eingeführt und dabei aufs Wesentliche heruntergebrochen. Allmählich erst beginnen sich die theatralen Mittel zu verzahnen, Wilms spielt mit dem Licht, später dient ihm ein Miniaturhaus als Kopfkissen, das dann als gewaltige Häuserfassade die Bühne bestimmt, während die Musik die Denkbewegungen Canettis aufgreift, kontrapunktiert oder auch strukturiert. Es ist das Geheimnis des Musiktheaters von Heiner Goebbels, dass es eine ganz eigene Dynamik entfaltet, als eine Art Gesamtkunstwerk, das seine Bestandteile nicht hierarchisch ordnen muss, sondern gleichberechtigt nebeneinander, aus sich selbst heraus entwickelt. "Eraritjaritjaka", 2004 in Lausanne uraufgeführt und über die Ostertage wieder einmal im Schauspiel Frankfurt zu sehen, steht für diese immens kreative Lust an der Heterogenität. "Ich liebe den Gang der Worte, ihre Wege, ihre Haltepunkte, ihre Stationen", hört man André Wilms mit Canetti auf Französisch sagen, "ich misstraue dem Fließen". Es könnte auch das ästhetische Manifest von Heiner Goebbels sein. Eraritjaritjaka ist ein Wort der Aranda, einem Aborigine-Stamm aus Zentralaustralien, und bedeutet "voller Verlangen nach etwas, das verloren gegangen ist". "Eraritjaritjaka" ist zugleich die dritte Zusammenarbeit von Heiner Goebbels und André Wilms, der Schlusspunkt einer Trilogie gewissermaßen, die gleichsam der Schönheit des Denkens gewidmet ist. Und wieder ist es wunderbar und einzigartig, wie Wilms diesmal den Fährten von Canettis Gedanken folgt, wie er sie nicht nur zitiert oder spielt, sondern vor uns entwickelt, wie sie ein Eigenleben gewinnen und um ihre Freiheit kämpfen: "Es ist nicht das Erlernte, das ich hasse. Was ich hasse ist, dass ich darin wohne." Zum Schluss verwischen Realität und Illusion. Eine Kamera, deren Bilder zunächst live auf die Bühne projiziert werden, folgt Wilms auf die Straßen Frankfurts. Man sieht, wie er eine Wohnung betritt, durch das Fernsehprogramm zappt, ein Omelett zubereitet und Canettis Gedanken weiter denkt, nur um festzustellen, dass der Ausflug in die reale Welt doch nur ein Kniff war, ein Spiel - Theater eben. Das Mondriaan Quartett aus Amsterdam spielt dazu Schostakowitsch und Ravel, Crumb, Scelsi und Bachs Kunst der Fuge. Heiner Goebbels muss kein originär eigenes Material komponieren, um Neues zu erfinden.
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)