21 April 2004, Joachim Johannsen, Deutschlandfunk
Review (de)
Eraritjaritjaka
Der Frankfurter Musiker und Regisseur Heiner Goebbels, der immer für eine Überraschung gut ist, macht es diesmal schon vor dem Eintritt in sein magisches Universum spannend. Was sagt man an der Kasse, wenn ein Werk «Eraritjaritjaka» heisst? Das ist leichter zu sagen als zu schreiben, aber vor dem Aussprechen muss man es erst einmal korrekt gelesen haben. Das Adjektiv aus Aranda, der Sprache der australischen Ureinwohner, ist der Titel der neuesten Komposition von Heiner Goebbels. Das 6-minütige Stück für Streichquartett bezeichnet einen Zustand «voller Verlangen nach etwas, das verloren gegangen ist». In der anderthalbstündigen Produktion des Théâtre Vidy Lausanne werden dem Zuschauer allerdings alle Wünsche erfüllt. Die unermüdliche Brutstätte zeitgenössischen Theaters direkt am Ufer des Genfer Sees gibt unter der Ägide von Direktor René Gonzalez wieder einmal den Startschuss für eine Welttournee. Die geheimnisvolle Chemie des Ortes setzt offenbar die Naturschönheit der Alpenlandschaft direkt in raffinierte Kunstschönheit um. Das Setting der Veranstaltung ist die strenge, konventionelle Atmosphäre eines Quartettabends. Was Schostakovitsch, Ravel und anderen für vier Streicher schrieben, wird aber schnell aufgebrochen. Ein Monsieur im grauen Dreiteiler tut Dinge, die man nicht tun sollte, er redet dazwischen, er redet drauf auf die Musik. Was er sagt, hat Niveau, er wirft philosophische Brocken in die Pausen und auf die Noten, er ringt um Weltverständnis und Selbstverständnis. Beide Tätigkeiten sind legitim, das Spiel aus der Partitur wie das Nachdenken über den Lauf der Welt, nur: müssen sie denn gleichzeitig stattfinden? Aber kein Ordnungsruf erschallt, denn der Widerstreit der Disziplinen ist gewollt, das ist der Kampf der Künste um neues Zusammenwirken - Streichkultur gegen Sprechkultur. Der Tarif des Abends ist ausgegeben. Den Streithähnen wird der schwarze Boden unter den Füssen weggezogen, das weisse Nichts tut sich auf, das weisse Rauschen des leeren Bandes. Der sprechende Mann hält einen bissigen Vortrag über die Allmacht des Dirigenten, das Quartett hat Tacet, eine weisse Hausfassade fährt herunter. Vorne links an der Rampe holt ein Kameramann den Schauspieler ab, wir sind ihn los, den Störenfried, aber da taucht er schon wieder auf, überlebensgross. Die Bilder der verschwundenen Kamera werden auf die Hauswand projiziert. Wir sehen, wie der Schauspieler André Wilms durch das Theaterfoyer stürmt, im Taxi durch Lausanne fährt, eine Zeitung kauft, seine enge Wohnung betritt. Dort wird der grosse Teilhaber am Weltgeist zum kleinen Normalbürger, der Zwiebeln schneidet, ein Omelett kocht und Tagesschau guckt. Heiner Goebbels drängt die locker gesammelten Texte von Elias Canetti, dem Literaturnobelpreisträger 1981, zusammen zu einer Momentaufnahme, dem Porträt des Künstlers als alternder Mann. Der einsame Wolf macht seine Einsamkeit noch grösser, indem er sie minutiös beschreibt. Dann plötzlich sitzt das bekannte Streichquartett in seiner Bibliothek. Das kann nicht sein. Denn die drei Herren und die eine Dame des Amsterdamer Mondriaan-Quartetts sind doch bei uns im Theater geblieben und haben den Echtzeitausflug des Philosophen mit ihrem Ritt durch die Quartettliteratur des 20. Jahrhunderts begleitet. Wir sind dem Illusionskünstler Heiner Goebbels und seinem langjährigen Bühnen- und Lichtdesigner Klaus Grünberg voll auf den Leim gegangen. Was uns weit entfernt erschien, war ganz naheliegend. Das Kino war doch nur Theater auf der Leinwand. Verblüffung macht sich breit, befreiendes Gelächter. Verblüffung über die Fallgruben in der glatten Oberfläche, über soviel Musik im Sprechtheater, über soviel Frechheit im Seriösen, über das Erhabene im Banalen, über das Einfache, das kompliziert erzählt wird, über das Komplizierte, das genial einfach zu entschlüsseln ist. Heiner Goebbels hat sich diesmal als Komponist zurückgenommen, umso glänzender sehen wir ihn als theatralischen Gesamtkunstwerker bestätigt.
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)