18 September 2004, Marcus Hladek, Frankfurter Neue Presse
Review (de)
Vexierspiele der Wirklichkeit
Heiner Goebbels errichtet seine Canetti-Montage "Eraritjaritjaka - Museum der Sätze" (Schauspiel Frankfurt) auf einem berückenden Trompe-l'oeil-Effekt. Um einem Aphoristiker, Zeit-und Sitten-Diagnostiker vom Rang Elias Canettis (1905-1994) gerecht zu werden, gibt es viele Wege. Musikalisch hat sich der Komponist und Theatermann Heiner Goebbels f¸r kammermusikalische Intimität und das Amsterdamer Mondriaan Quartett entschieden, das eine Montage von Musikstücken für ihn spielt. Ihr Grundstein ist Schostakowitschs 8.Streichquartett mit der Bach zitierenden Signatur des Komponistennamens im Notenmaterial ("D-eS-C-H"). Mitgedacht ist, dass Schostakowitsch das Quartett den Opfern des Faschismus und insgeheim des Stalinismus widmete. So spielt Goebbels auf Canettis literarisches Andenken gegen die deformierte Welt an Die wahre Steigerung zu sinnli cher Evidenz erhält das musikalische Glasperlenspiel aber im Szenischen. Goebbels lässt "Eraritjaritjaka" von ausgesuchten Canetti-Aphorismen, also seiner bevorzugten, anti-ideologischen Denkform, funkeln. Doch ist das nur der Anfang Goebbels steigert die Bühnenarbeit selbst in einen großen Regie-Aphorismus, indem er ein Vexierspiel von raffinierter Einfachheit ins Zentrum rückt. Eingebettet ist es ins milde wogende Geplänkel rund um AndrÈ Wilms, der 40 Minuten lang auf französisch Canetti rezitiert, während er mit sparsamer Geste auf die Musiker und zwei "Roboter" (ganz cartesisch fürs "Tier" in einem Aphorismus), auf den Scheinwerfer und das Bühneninventar reagiert - ein Hausmodell nebst lebensgroßem Gegenstück als Fassade. Dann verlässt Wilms auf einmal den Saal. Verfolgt von einem Kameramann, dessen Bilder fortan live auf der Hausfassade erscheinen, geht und fährt er eine Weile durch Frankfurt, kauft sich Wasser und betritt dann seine Wohnung, wo er ein kauziges Verhalten zeigt (gefälliger Schwenk vom Omelett aufs Schachbrett), das vom Sinologen Kien aus Canettis "Blendung" inspiriert ist. Endlich der Theatercoup, der die glücklicheren Zuschauer so unvorbereitet trifft, dass es ihnen den Atem verschlägt und einen Silberblick, ein Schielen auf Realität und Fiktion aufnötigt: Die reale Wohnung, die Wilms/Kien soeben durch den Treppenaufgang betrat, befindet sich in Wahrheit in dem Haus auf der B¸hne. Ein Moment kalkulierter Schizophrenie, das umso schillernder ist, wenn von den Buchstapeln im engen Haus als "Fiedler unterm Dach" auch noch das Mondriaan Quartett aufspielt, als seien sie aus dem j¸dischen Anteil der Gedankenwelt Canettis entwichen. Zeichnet sich Goebbels' Arbeit seit je durch die reibungsvolle Kombination geometrischer Rauml�sungen mit einer barocken Opulenz von Sprache und Klang aus ("Hashirigaki"), so zügelt er sein Temperament mit diesem Trompe-l'oeil-Effekt modellhafter als zuvor - und erzeugt erst recht eine Vielschichtigkeit, die en passant in keinen Begriff geht. Dergestalt ist die Überforderung, die man vom Theater als einem "Museum der Sätze" (sein Untertitel) fordern muss.
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)