6 November 2004, Charlotte Staehelin, Basler Zeitung
Review (de)
Der Feine und die Welt
Das Théâtre Vidy aus Lausanne gastiert mit "Eraritjaritjaka" am Schauspielhaus Zürich
Heiner Goebbels «Eraritjaritjaka» ist eine komplexe Verbindung von Musik, Text, Schauspiel und Video. Es überfordert Verstand und Sinne - und berührt dennoch stark: Die Zürcher Premiere endete in Standing Ovations. «Eraritjaritjaka»: Von weit her kommt diese Lautfolge. Aus einer Welt, wo es keine Strassenschluchten gibt, keine fein säuberlich arrangierten Einfamilienhäuser, keine Anzüge und keine computergesteuerten Scheinwerfer. Sie bedeutet, so der Autor Elias Canetti, auf Aranda, einer alten Sprache der australischen Aborigines, in etwa so viel wie: «voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist». Dieses «Eraritjaritjaka» bildet die inhaltliche Klammer um Heiner Goebbels Musiktheaterabend. Doch geht es dabei nicht um eine rückwärtsgewandte Sehnsucht, um vergilbte Erinnerungen an gute alte Zeiten, an die Kindheit, die unberührte Natur oder eine verflossene Liebe. Sinnsuche. Der deutsche Komponist und Regisseur begibt sich vielmehr auf eine brisante Sinnsuche. Er stöbert nach einem Verständnis für die Welt, das jenseits des modernen Stadtlebens liegt. Erforscht die Ingredienzen, welche die Menschen miteinander verbinden, geht der Einsamkeit nach. Er klopft kritisch die Bedeutung von einzelnen Wörtern oder Sätzen ab, untersucht die Kraft der Musik. Und stösst dabei ständig an Grenzen. Der Protagonist des Abends ist ein höflicher älterer Herr in einem leicht antiquiert wirkenden Wollanzug (gespielt von André Wilms), dem Goebbels Textmaterial von Elias Canetti in den Mund legt. Diese Figur hat viele Gesichter. Manchmal meint man darin den Schriftsteller Canetti zu erkennen, ein andermal steht der bibliomane Professor Kien, die Hauptfigur aus Canettis Roman «Die Blendung», auf der Bühne. Dann wiederum ist es schlicht der Schauspieler Wilms, der in einer singenden französischen Version (die Uraufführung der Inszenierung fand im Théâtre Vidy von Lausanne statt) Elias Canettis Texte vorträgt. Der die Worte und Laute genüsslich auskostet und leicht ironisch bricht. Kontrastiert wird Wilms durch die vier souveränen Musikerinnen und Musiker des Amsterdamer Mondriaan Quartet. Sie setzen Canettis Texten eine Musik entgegen, die von Maurice Ravel über Schostakowitsch, Alexeij Mossolov oder George Crumb bis zu den zeitgenössischen Kompositionen eines John Oswald reicht. NOTSTAND. Goebbels schafft es - und das ist der bestechende Punkt des Abends -, sein Publikum in dieselbe Bedrängnis zu bringen wie seinen Protagonisten. Gemeinsam mit dem älteren Herrn auf der Bühne ist man im Zuschauerraum ständig damit beschäftigt, Sinn zu stiften. Man verbeisst sich in Details, ringt um Verständnis. Sucht die Worte, Töne und Bilder (eine raffinierte Überblendung zwischen Innenraum und Aussenwelt, Videoprojektion und dreidimensionaler Bühne) in Einklang zu bringen. Und ist damit zum Scheitern verurteilt. Denn der Abend geht über einzelne Sinnstränge hinaus. Was berührt und umtreibt, liegt jenseits des rational Fassbaren im übergeordneten Zusammenspiel der Zeichen. CHARLOTTE STAEHELIN
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)