3 November 2004, Thomas Meyer, Tages-Anzeiger
Review (de)
Vom Verschwinden des Komponisten im Theater
HEINER GOEBBELS UND DIE MUSIKTHEATERPRODUKTION «ERARITJARITJAKA»
Aus der Verfügbarkeit nahezu aller Musiken im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit hat er seine Konsequenzen gezogen. Nicht jeder Ton müsse von ihm stammen, sagt der in Frankfurt lebende Komponist Heiner Goebbels. Das kann so weit gehen, dass kaum einer mehr von ihm komponiert wurde. In «Eraritjaritjaka» erklingen, gespielt vom Mondriaan Quartet aus Amsterdam, Musiken von Bach, Ravel, Schostakowitsch oder von so verschiedenartigen Zeitgenossen wie George Crumb, John Zorn und Gavin Bryars. Schon das ist ein ungewöhnlicher Mix, aber auf diesen «klassischen» Bereich bleibt die Arbeit von Goebbels sonst nicht beschränkt. In «Ou bien le débarquement désastreux», der ersten Produktion mit dem Schauspieler André Wilms, arbeitete er mit dem senegalesischen Vokalisten und Koraspieler Boubakar Djebate zusammen, in anderen Projekten mit Jazzern oder Punkern. Der Grenzgänger bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen den Genres. Wichtig ist dabei der Prozess: Diese Musik entsteht nicht im Elfenbeinturm, sondern im Kontakt mit den Schauspielern und Musikern. Die Partituren, so sagt der 52 Jahre alte Goebbels, notiere er zwar später exakt aus, aber wenn er zur ersten Probe komme, habe er noch kaum was aufgeschrieben. In der Zusammenarbeit erst entstehen Bilder und Ideen, werden Materialien zusammengetragen. Er wolle nicht ständig Ich sagen. «Deshalb liebe ich dieses Zitat von Walter Benjamin: Franz Kafka habe erst da angefangen, grosse Literatur zu schreiben, als er in der Lage war, aufzuhören, Ich zu sagen.» Spannend werde es doch erst, wenn sich etwas Überindividuelles formuliere: «Kunst als Ausdruck nicht einer persönlichen Obsession, sondern als kollektive Erfahrung und als gesellschaftlicher Schatz.» So verschwindet der Komponist Goebbels zu Gunsten eines Künstlers, der andere Musiken sampelt und inszeniert, zu Gunsten also eines Kom-Ponisten, eines Zusammensetzenden. «Wie ich die Materialien, die nicht originär von mir sein müssen, montiere: An diesen Schnittstellen können Sie mich ausmachen. Da entscheidet sich, ob eine Konfrontation funktioniert. Nicht wichtig ist ja, dass ich mit Hip Hop, griechischen oder dokumentarischen Elementen arbeite, sondern wie ich das tue.» Die Originalität liegt in der Verfahrensweise: in der Auswahl und Bearbeitung. «Eraritjaritjaka», im April im Théâtre Vidy in Lausanne uraufgeführt, ist ein wunderbares Beispiel dafür. Es entstand zusammen mit dem elsässischen Schauspieler André Wilms - «d'après des textes d'Elias Canetti», denn es basiert auf den Tagebuchaufzeichnungen des Nobelpreisträgers, aber auch auf Ausschnitten aus «Masse und Macht» und dem Roman «Die Blendung». Viele Stücke von Heiner Goebbels sind von Texten oder Bildern inspiriert, kaum einem liegt nicht eine aussermusikalische Idee zu Grunde. André Wilms spielt, rezitiert, bewegt sich, er dramatisiert so Canettis «Musée des phrases», wie der Untertitel lautet, aber durch die Musikalisierung geraten die Worte ins Schillern, ins Rätselhafte, ins Verwirrliche, ins Nachdenkliche, ins Melancholische. Das Haus im Bühnenbild von Klaus Grünberg liesse sich so als Ort der Sehnsucht und der Heimkehr deuten, denn «Eraritjaritjaka», so Canetti, heisse auf Aranda, der Sprache der nordaustralischen Aborigines, so viel wie «voller Verlangen nach etwas, was verloren gegangen ist».
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)