6 November 2004, Michael Eidenbenz, Tages-Anzeiger
Review (de)
Schweben mit Canetti
Heiner Goebbels verknüpft die Künste, zaubert, blendet, irritiert. Im Zürcher Schauspielhaus gabs Ovationen für sein jüngstes Musiktheater.
Schon der Titel des Projekts ist wunderschön: Eraritjaritjaka. Dass er der Sprache australischer Aborigines entstammt und das Verlangen nach verloren Gegangenem bezeichnet, ist auch interessant, aber vorerst zu vernachlässigen. Schön auch der Untertitel: «Museum der Sätze» oder, da an dem Abend ausschliesslich französisch gesprochen wird, «Musée des Phrases», was die Sache noch präziser trifft. Fabelhaft ist einmal mehr die Sololeistung des Schauspielers André Wilms, der einen Abend lang mit melancholischem Ernst und resignativem Understatement die aphorismustauglichen Sätze rezitiert, die Heiner Goebbels bei Elias Canettis gefunden hat. Beachtlich ist das Spiel des Mondriaan Quartet, das mit Schostakowitsch, Ravel, Bach oder George Crumb den lautsprecherverstärkten Soundtrack zum Geschehen liefert. Und von intelligent reduktionistischer Bildkraft sind Klaus Grünbergs Lichtregie und das Bühnenbild, das eine schlichte Hausfassade sowohl als Videoprojektionsfläche wie als Grenze zu einem durch beleuchtete Fenster zu erkennenden Hausinneren benutzt und das verwirrende Innen-Aussen, das den Abend bestimmt, sinnfällig macht. Vollends frappierend aber ist schliesslich der grosse Zaubertrick: Irgendwann nämlich verlässt André Wilms die Pfauenbühne - per Video (Bruno Deville) können wir seinen Weg verfolgen -, besteigt ein Auto, fährt durch die Stadt, landet in einer Wohnung, wo er schreibt, kocht, isst, weiteren Canetti-Kunstfiguren begegnet und dann doch unvermittelt wieder auf der Bühne unter den Musikern ist. Live, aktuell - TV-Nachrichten, Tageszeitung und Uhrzeit belegen es-, er war weg, in der Vergangenheit ist er da. In jener mit sehnsüchtigem «Verlangen nach Verlorenem» erinnerten Vergangenheit eben, in der die intellektuelle Weltaneignung durch schriftstellerische «Phrasen» noch möglich war. Deren bildungsbürgerliche Grenzen Schostakowitschs8. Streichquartett, dieses fatalistische Requiem auf sich selbst, und Bachs ewiger Kontrapunkt aus der «Kunst der Fuge» absteckten. Und die mit Crumbs schreienden Black Angels oder Gavin Bryars 1. Streichquartett ihre avantgardistische Ausweglosigkeit benannt sieht. Genau und anspielungsreich sind die Bezüge zwischen den verschiedenen Kunstmedien, übervoll der Gedankenreichtum. Heiner Goebbels, der grosse Kompilator des zeitgenössischen Musiktheaters, hat hier sein Meisterstück einer Konstruktion in der Schwebe geschaffen, in dem Aussage und Irritation in so perfektem Gleichgewicht verharren, dass einem vor lauter Staunen und Studieren schier das Denken vergehen möchte.
on: Eraritjaritjaka (Music Theatre)