7 March 2003, ORB Radio
Review (de)

Untitled

(..) Daß Heiner Goebbels einmal ein Orchesterwerk für die Berliner Philharmoniker komponieren wrüde, war nicht unbedingt abzusehen, hat er sich doch zunächst mit Bühnen- und Filmmusik sowie als Hörspielautor hervorgetan und sich im letzten Jahrzehnt einen Namen durch das Musiktheater gemacht, in dem die Musiker gleichzeitg Schauspieler sind. Zum einen jedoch liebt Simon Rattle unkonventionelle Ideen, zum anderen hat Heiner Goebbels mit seiner Komposition "Aus einem Tagebuch" mit dem Untertitel "Kurze Eintragungen" auch nicht einfach ein abstraktes Orchesterstück geschrieben. Der Komponist hält vielmehr Rückschau auf sein bisheriges Oeuvre: Aus einem Keyboard-Sampler erklingen fragmentarische Töne, Geräusche und Wortfetzen aus vielen seiner bisherigen Produktionen, die durch das Orchester eingebunden, weitergeführt oder kommentiert werden. Es wird sozusagen ein wahlloses Blättern in einem akustischen Tagebuch suggeriert. Das klingende Ergebnis ist eine humorvoll-skurrile Synthese aus mehr oder weniger zuordbaren Geräuschen und stilistischen Anleihen, die Assoziationen an die Akustik in großen, leeren Hallen, an Barmusik, an Filmmusik, wie so oft in dramatischen Augenblicken bei Fernsehkrimis eingesetzt wird, und an vieles andere mehr zuläßt. Oft dienen die Geräusche als Rhythmusgrundlage etwa für ein Klarinettensolo; sie werden aber auch häufig überlagert wie im langen Schlußteil, wenn ein markantes Motiv sogar als eine Art Passacaglia mit Fugato-Elementen immer wiederkehrt. Die repetitiven Muster, die sich mit statischen Klängen ablösen, wären eine ideale Begleitmusik für Film oder Hörspiel. In dieser Orchesterkomposition gibt es jedoch nichts, das begleitet werden könnte, und so wird die scheinbare Begleitung, also das rein Illustrative, zwangsläufig zur Hauptsache, ohne daß jedoch die Musik die Substanz besitzt, diesen Anspruch erheben zu können. Heiner Goebbels formuliert so auf wahrhaft geniale Weise eine Ästhetik des musikalisch Sinnlosen; das aber - vom Orchester mit großer Spielfreude und hoher Präzision ausgeführt - auf höchstem Niveau als Synthese von Elektronik und Symphonik - eine ungewöhnliche Art und gleichzeitig ein seltener Fall eines gelungenen Cross-overs. (...)

ORB Radio 3 - Kritik am Morgen (7.3.2003, 8.15.Uhr)
on: Aus einem Tagebuch (Composition for Orchestra)