20 May 2009, Rainer Elstner, ORF
Interview (de)
Kritik an zeitgenössischem Vokalstil
Der Vielseitige bei den Festwochen
Die zweite Musiktheaterpremiere der heurigen Wiener Festwochen hat ein vielseitiger Meister dieses Genres zu verantworten: Der Komponist, Regisseur und Theaterwissenschaftler Heiner Goebbels. Seine Karriere startete Goebbels in Deutschland mit experimenteller Rock-Musik und mit dem "Sogenannten Linksradikalen Blasorchester". Das "sogenannt" übernahm man aus Medienberichten über die Gruppe gleich in den Namen.
Seit Mitte der 1990er Jahre liegt der Schwerpunkt von Goebbels Arbeit auf Musiktheater-Stücken, in denen Bühnengeschehen und Musik in einem gleichwertigen Verhältnis stehen.
Heiner Goebbels Projekt "I went tot he house but did not enter" hatte am Mittwoch, 20. Juli 2009, bei den Wiener Festwochen seine Österreich-Premiere. Uraufgeführt wurde das szenische Konzert letztes Jahr beim Edinburgh Festival.
Geschrieben hat Heiner Goebbels das Werk für das britische Hilliard Ensemble, dessen Stimmen an Alter Musik geschult sind. Die vier Sänger haben sich mit der Bitte um ein Werk an den Komponisten gewandt, erzählt Goebbels: "Ich hatte im gleichen Zeitraum, das war vor zwei, drei Jahren, viele Anfragen von Opernhäusern. Aber das hat mich sofort interessiert. Weil die einfach eine andre Art der stimmlichen Präsenz haben, die eher etwas mit Zurücknahme zu tun hat und nichts mit dem vordergründig dramatischen Präsenzbegriff, wie man sie von Opernsängern kennt. Das ist nicht meine Welt."
"I went to the house but did not enter" wurde 2008 in Edinburgh uraufgeführt und tourt seither von Festival zu Festival.
Zum Vokalstil dieser Komposition haben auch prinzipielle Überlegungen eine Rolle gespielt. "Ich merke, dass es eine Verselbständigung von experimentellen Versuchen mit der Stimme gibt", kritisiert Goebbels. Es fehle oft die Verbindung zum ausführenden Körper. "Ich glaube, dass das durch eine Diskrepanz der Arbeitsweise passiert. Dass man am Schreibtisch etwas ausprobiert, was durchaus sinnvoll und radikal überraschend und stimmig sein kann, was aber nicht mehr funktioniert, wenn man es auf eine akademische Stimme überträgt."
Er höre in der zeitgenössischen Musik oft experimentelle Register, die "wenn jemand von außen rein käme, der nicht zur Klientel dieser Ästhetik gehört, sagen würde: Was ist denn das für ein alberner Quatsch?"
Literatur des 20. Jahrhunderts vertont
Vier literarische Texte aus dem 20. Jahrhundert hat Goebbels vertont: T.S. Eliot, Maurice Blanchot, Franz Kafka und Samuel Beckett sind die Autoren. Vier Herren im Anzug sind zu sehen, langsame Aktionen und das Bühnenbild vermitteln eine melancholische Stimmung. Geschichten werden keine erzählt.
"Es ist bewusst als ein 'szenisches Konzert' untertitelt", betont der deutsche Komponist. "Das heißt die Musik, der Klang und das Hören stehen immer wieder mal im Vordergrund, aber demgegenüber hat das Sehen eine unabhängige Existenz. In dem Moment, wo unsere Wahrnehmung irritiert ist, oder wo wir sie neu konstituieren müssen, weil etwas Gesehenes mit dem Gehörten nicht zusammen geht oder man sich plötzlich in einer Stille wiederfindet, die in einem so großen Kreis von Zuschauern selten ist, dann nehmen wir uns selbst als anders wahr. Ich glaube das muss Theater auch anbieten: dass wir uns als zuschauende und zuhörende Subjekte selbst beobachten und nicht den Eindruck haben, wir bekommen hier Antworten gegeben, sondern selbst beginnen Antworten zu suchen auf die Fragen, die auf der Bühne entstehen."
on: I went to the house but did not enter (Music Theatre)