Autumn 2008, Bettina Hauser, Costa Blanca Nachrichten
Interview (de)
Von der Lust des Entdeckens
Interview with Bettina Hauser
Auf der Bühne: Wasserbecken, Steine, ein altes Gemälde. Die Tasten eines Klaviers werden wie von Geisterhand bewegt und lassen ein Werk von Bach ertönen. Die Bühne ist leer. Menschenleer. „Stifters Dinge“ nennt sich das Stück, das Heiner Goebbels in Valencia zeigt. Der deutsche Komponist und Regisseur ist bekannt für Innovatives. Und für seine Vielseitigkeit: Mitbegründer des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters, Komponist zahlreicher Hörspiele, szenischer Konzerte, Werke für großes Orchester und Musiktheaterstücke. An Anerkennung mangelt es dem 55-Jährigen nicht: Etliche internationale Auszeichnungen begleiten seinen Werdegang, darunter zwei Grammy-Nominierungen und Einladungen zu Musik- und Theaterfestivals weltweit. Seit 1999 lehrt Goebbels als Professor am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen, der Hessischen Theaterakademie steht er als Präsident vor. Musik, Theater, Kunst – „Stifters Dinge“ hat von allem etwas. Wie würden Sie das Stück beschreiben? „Stifters Dinge“ ist eine performative Installation. Das Werk hat etwas von der Ruhe, die der Betrachter im Museum erfährt. Gleichzeitig besitzt es die Spannung und Dramaturgie eines Theatervorgangs. Die Idee für das Stück fanden Sie in Texten von Adalbert Stifter – was fasziniert Sie an dem Schriftsteller? Stifter verstand es wie kein anderer, die Aufmerksamkeit auf das Detail zu lenken und Natur zu beschreiben. Regentropfen, Nebelschwaden, das Geräusch von Steinen – all das findet sich bei mir auf der Bühne wieder. Naturphänomene, inszeniert mit Hilfe der Technik – ist das nicht ein Widerspruch? Nein, überhaupt nicht. Die Technik tritt im Stück in den Hintergrund, das Augenmerk liegt eindeutig auf der Wahrnehmung der akusischen und visuellen Ereignisse. In „Stifters Dinge“ arbeiten Sie ohne Schauspieler. Gibt es in der von Ihnen erschaffenen Welt keinen Platz für den Menschen? Doch, auf alle Fälle. Der Mensch steht im Zentrum des Stücks, auch wenn er auf der Bühne mit vielen Stimmen nur zu hören, aber nicht zu sehen ist. Es ist aber vor allem der Zuschauer, durch den das Stück erst zum Leben erweckt wird. Der Zuschauer? Ja, genau. Gewöhnlich findet bei einem Theaterstück immer eine Identifizierung mit den Schauspielern statt. In „Stifters Dinge“ ist das Publikum der Souverän; keiner steht vor ihm und sagt, wo es lang geht ... Der Zuschauer besitzt dadurch eine viel größere Freiheit, einen großen Spielraum für seine Imagination, und seine Aufmerksamkeit wird durch nichts beengt. Das hört sich sehr nach Individualismus an... ...und nach kollektiver Kreativität. Ich mache dem Zuschauer in „Stifters Dinge“ Angebote, Interpretationsvorgaben gibt es nicht. Es ist eine künstlerische Realität, die ich schaffe, und die auch nur in diesem einen Moment existiert. Kann das Publikum mit einer solchen Freiheit überhaupt umgehen? Ich denke schon. Es ist gerade das Unspektakuläre, das in dem Stück den Betrachter anzieht. Was der Zuschauer mitbringt, ist die Neugier und die Lust zu entdecken. „Stifters Dinge“ hat bisher großen Anklang gefunden. Das freut mich, denn auch für mich war das Stück zunächst ein Experiment. Sind Ihre Werke politisch motiviert? Im weitesten Sinne ja. „Stifters Dinge“ wirft viele Fragen auf, die uns zur Zeit beschäftigen: Fragen der Ethnologie, Fragen einer ökologischen Aufmerksamkeit, wieviel Beachtung schenken wir der Natur, den Materialien, den Dingen? Wie gehen wir mit dem um, was uns fremd ist wie gehen wir auch mit dem fremden Menschen um, den wir nicht kennen? Sie sind auch in der Lehre tätig. Welche Werte möchten Sie Ihren Studenten vermitteln? Ich lege großen Wert auf die Kreativität, auf die Einsicht, dass es in der Kunst keinen festen Kanon geben darf. Die Studenten können auch lernen, Ihre Ideen der Realität nicht aufzusetzen, sondern sie vielmehr in Auseinandersetzung mit ihr zu entwickeln und an ihr reiben. Das heißt zum Beispiel einen Bühnenraum nicht unbedingt neu erzufinden, sondern nach den unentdeckten Möglichkeiten schauen, die das Vorhandene bereits bietet.
on: Stifters Dinge (Music Theatre)