13 September 2008, Anita Strecker, Frankfurter Rundschau
Portrait (de)
Der Grenzgänger
Mein Schreibtisch
Sein Schreibtisch hat drei Seiten. Drei gleich lange Seiten, ohne jede Hierarchie. Das ist wichtig. So kann er sich von jeder Seite gleichberechtigt an seine vielschichtige Arbeit setzen, sagt er. Musik, Wort, Bild, Szene, Licht. Heiner Goebbels denkt alles gleichzeitig. Nichts ist wichtiger als das andere. Dass der schwarze Tisch in seinem blauen Arbeitszimmer im weitläufigen Westend-Altbau von dem Künstler, Designer und Architekten Stefan Wewerka stammt, könnte fast als Programm gelten. Auch Wewerka lässt Grenzen zwischen Genres verschwinden, spielt virtuos mit der ganzen Klaviatur von Kunst und Design, Paradoxie und Funktionalität und lässt sich nicht in Schubladen stecken - so wie es Goebbels mit seinem experimentellen Musik-Licht-Theater tut. ANZEIGE Es muss ein zusammengesetzter "Produktname" sein, um nicht Gefahr zu laufen, die Schublade zu klein zu wählen, Goebbels Werke einzusortieren. Weil der 56-Jährige alles da Gewesene sprengt, Risiko bereit immer Neues wagt und auf die Bühne bringt. International deshalb als einer der wichtigsten Protagonisten der zeitgenössischen Musik- und Theaterszene gilt, viel gefragt, vielfach ausgezeichnet. Erst im Juni hat er den Binding-Kulturpreis in Frankfurt erhalten. Obwohl er eigentlich eher ein ängstlicher Mensch ist, sagt er und lächelt. Aber bei seiner Arbeit geht es nicht um Angst oder Heldentum. Es geht um das Interesse, immer neue Antworten von Wahrnehmung, Sinnlichkeit, Emotion und Auseinandersetzung zu finden, um das komplexe Zusammenspiel von Musik, Gesang, Licht, szenischem Spiel. "Mich interessiert das Fremde. Dass man etwas schafft, das was Eigenes wird, hinter dem der Künstler verschwindet." Etwas zu wiederholen, würde ihn langweilen. Dennoch hat es lange gedauert, bevor er es wagte, Grenzen zu überschreiten und Dinge zusammenzuführen, sagt er. Ein langer Weg, aber logische Entwicklung. Die im Grunde mit 15 begonnen hat, als das Kind aus katholischem Elternhaus in Neustadt "ausgebrochen" ist, in einer Rockband spielte, moderne Kunst entdeckte und zur Documenta nach Kassel pilgerte. "Mein Ausbruch kam über die bildenden Künste." Er studiert Soziologie und Musik in Freiburg und Frankfurt, spielt Saxophon im "Sogenannten Linksradikalen Blasorchester", im Goebbels/Harth-Duo und in der Rockband Cassiber. Es folgen Kompositionen für Theater, Film, Ballett, Mitte der 80er Hörspiele, dann komponiert er Stücke und szenische Konzerte für das Ensemble Modern, schließlich Orchesterwerke - unter anderem für die Berliner Philharmoniker. Nur wenige Schlaglichter auf Goebbels Weg durch die Genres hin zum Musiktheater, in denen alle Grenzen verschwinden. Dass Experimentierfreude und Ablehnung jeglicher Hierarchie auch Produkt der Sponti-Zeit seiner Jugend ist, weist er eher zurück. "Der Kunstbegriff war viel plakativer, man hatte politische Mitteilungen zu machen." Er ließ sich schon damals nicht vereinnahmen, blieb misstrauisch. Goebbels ist ein Suchender, der wahrnimmt, offen bleibt. Selbst im Gespräch entgeht ihm nichts um ihn herum. Er achtet auf die Handwerker vorm Fenster, dass der Fotograf hoch genug steht, um alle Ecken des Schreibtischs in den Fokus zu kriegen - und wirkt doch nie abgelenkt. Nur wie einer, der gewohnt ist, komplex wahrzunehmen, in Gleichzeitigkeiten zu denken. Er ist Regisseur. Immer in Arbeit, die er als Prozess begreift, zusammengesetzt aus losen Enden. Er verbindet, führt fort, experimentiert - stets im Austausch mit Technikern, Künstlern, auf deren Kompetenz und Reaktionen er baut. Unermüdlich. Akribisch. Bis der Punkt erreicht ist, der stimmt. "Ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass ich zu früh zugemacht und das Optimale nicht erreicht habe." Dann ist er Pedant, hält fest, achtet auf jede Falte im Vorhang, die ablenken könnte von der komplexen Wahrnehmung, die er bezweckt. Und so reist er seinen Stücken auf alle Bühnen dieser Welt hinterher, achtet, dass alles läuft wie gewollt. Er ist einer, der mit dem Zufall spielt, am Ende aber nichts dem Zufall überlässt. Auch nicht bei seinem jüngsten Projekt, das am 24. September im Frankfurter Schauspiel Premiere feiert: "I went to the house but did not enter." Ein szenisches Konzert in drei Bildern, in denen Goebbels das berühmte Hilliard Vokalquartett Texte von Eliot, Blanchot und Beckett singen und inszenieren lässt. Ein Wagnis, weil das Ensemble Konzerte für gewöhnlich starr wie ein Chor vorträgt. Weil sich Sänger und Regisseur nicht kannten. Und weil niemand ahnen konnte, was sich in der Zusammenarbeit entwickeln wird. "Das Quartett hatte mich gebeten, etwas für sie zu komponieren." Mehr nicht. Das war der Auftrag. Das Ergebnis hat ihn selbst überrascht: Ein intensives Stück, ganz ohne Spektakel. "Wohl mein leisestes Stück." Jetzt ist es in der Welt und Goebbels frei, sich um eine weitere Facette seines Schaffens zu kümmern. Er ist Professor am Institut für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen und unter anderem Präsident der Hessischen Theaterakademie als Verbund von vier interdisziplinären Hochschulen und neun Theatern der Region. Die Arbeit mit Studenten ist ihm "wichtig und inspirierend" - als Beobachter, Betreuer, Kurator. "Eine ständige Herausforderung." Bis zum nächsten Auftrag.
on: I went to the house but did not enter (Music Theatre)