23 August 2024, Manfred Hess, nachtkritik.de
Interview (de)
Gegenwärtig lebe ich allein
Im Gespräch mit Produktionsdramaturg Manfred Hess von der SWR 2 Hörspielabteilung sagt Heiner Goebbels über den Dichter und Maler Henri Michaux
"Michaux zählt ja zu den großen Doppelbegabungen und Außenseitern in der europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Und ich kann nicht einmal sagen, was mich mehr an ihm interessiert: Seine Poetik der rhythmischen Wiederholung in den Texten oder die offenen Bewegungen und Gesten in seinen Zeichnungen. Seine Texte sind explosiv, beschwören eine Unabhängigkeit, sind auf Abgrenzung aus, sind dagegen. Er treibt sich zugleich seine Ausbrüche mit dem Schreiben aus. Es ist eine Art künstlerischer Exorzismus gegen sich, den Rest der Welt, und gegen den öffentlichen Sprachgebrauch. Bei Michaux ist das Gesagte nicht immer das Gemeinte – oft eher das Gegenteil. Mit großem Misstrauen gegenüber den Festlegungen der Sprache und mit dem Wunsch sich 'dem Unsagbaren' zu nähern, malt er, um sich 'zu dekonditionieren'. Vielleicht versuche ich das, was er im Schreiben und Malen nebeneinanderstehen lässt, in einem dritten, akustischen Medium zusammenzuführen."
über seine Kompositionsarbeit an dem Hörstück
"Zunächst – und übrigens zum ersten Mal – habe ich eine Woche lang auf und in dem Flügel zu Hause Aufnahmen gemacht. Und das noch ohne Textauswahl und Textbezug. Improvisationen, Klavierpräparationen, Klangforschung. Nicht wissend, was daraus werden würde. Diese Nicht-Intentionalität war mir offensichtlich wichtig. Ich wollte die Texte nicht interpretieren, auch nicht einen bestimmten Effekt erzielen zu einem Wort oder Satz, sondern mich zunächst einer musikalischen Logik der Klangerzeugung überlassen. Die stieß dann erst mehrere Wochen später mit den Textaufnahmen zusammen."
Über das Verhältnis von Sprache und Musik im Hörstück
"In Bildern zu denken, oder denken zu lassen, ist nicht illustrativ gemeint, sondern ein Versuch Texte nicht nur zu 'lesen'. Selbst der Autor Michaux gibt als Maler Bildern den Vorzug vor Büchern, weil bei der Lektüre die Wahrnehmungsrichtung zu sehr vorgezeichnet ist und er die 'freie Zirkulation' vermisst: also mal links, mal rechts zu schauen, mal oben, mal unten, ganz nach Belieben. Und obwohl Musik ja eine eindeutige Zeitachse zu haben scheint, schwebt mir eine solche Freiheit letztlich auch vor."
on: "Gegenwärtig lebe ich allein" (Audio Play)