29 September 2000, Max Nyffeler, Neue Zürcher Zeitung
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Von der Kunst, den Augenblick einzufangen
Die kollektiven Arbeitsprozesse in Heiner Goebbels' Werk
Beim sogenannten Linksradikalen Blasorchester in seiner Heimatstadt Frankfurt hat Heiner Goebbels angefangen. Später arbeitete er als Komponist für Theaterbühne und Konzert, als experimenteller Rockmusiker, Studioarbeiter, Hörspielautor und Theaterregisseur. Inzwischen haben sich die Erfahrungen zu einer Tendenz gebündelt, die in Richtung experimentelles Musiktheater weist. So auch bei seinem neuesten Werk, ". . . Meme soir", das dieser Tage in München uraufgeführt wird.
Strassburg, August 2000. In der "Laiterie", einem Off-Theater auf einem stillgelegten Gewerbeareal hinter dem Bahnhof, probt Heiner Goebbels mit den Percussions de Strasbourg sein neues Stück ". . . Meme soir" für sechs Schlagzeuger, Szene, Licht und Videoprojektionen. Der Komponist sitzt vor der Bühne an einer Art Regietisch, auf dem sich Computer, Keyboard und eine Menge Papiere befinden: Notenseiten, Notizbücher und Skizzenblätter mit graphischen Tabellen, in deren Spalten Bühnensituationen, Lichteinstellungen, musikalische Motive und Instrumentensymbole einander zugeordnet sind. Sie stellen einen möglichen Gesamtablauf dar.
Dahinter, erhöht, das Equipment für Klangmischung, Video und Beleuchtung. Auf der behelfsmässig eingerichteten Bühne sind die Schlaginstrumente und Klangerzeuger in einem weiten Rechteck den Rändern entlang aufgebaut. Die Bühnenfläche ist weitgehend frei und für Gänge und besondere Aktionen reserviert. Am rechten Rand stehen sechs riesige grosse Trommeln - Objekte für spektakuläre szenische Aktionen? Von einem Werkganzen ist man noch weit entfernt. In ständigem Dialog zwischen Bühne und Regietisch werden einzelne Passagen des Stücks erst einmal musikalisch ausgearbeitet. Die Kollegen an Licht- und Tonpult folgen aufmerksam und schalten sich mit ihren Materialien diskret in die Abläufe ein; durch die Gänge und Gesten der Schlagzeuger kommt automatisch ein szenischer Aspekt ins Spiel. Musik und Szene durchdringen sich gegenseitig und beginnen Konturen zu entwickeln.
Doch noch geht es dem Komponisten, der zugleich sein eigener Regisseur ist, vor allem um die präzise Klangcharakteristik: Welche Klangfarbe hat ein Tutti-Einsatz, wie schlage ich mit der Rute durch die Luft, dass es am schönsten saust, in welcher Raumposition kommt ein bestimmter Klangerzeuger am besten zur Geltung. Instrumente werden ausgetauscht, Artikulationen präzisiert, kleine Veränderungen am Notentext angebracht, ganze Formteile umgestellt. Das nahtlose Ineinander der verschiedenen Aktionen und Klänge, die absolute Präzision der Einsätze sind noch zweitrangig. Das wird sich im weiteren Verlauf ergeben.
Zu jedem Zeitpunkt ist das Werk Resultat der gemeinsamen Erfahrungen, die Komponist und Interpreten während ihrer Arbeit gemacht haben: Work in progress im reinsten Sinn des Wortes. Erst mit der Uraufführung, manchmal sogar erst danach, kristallisiert sich die endgültige Gestalt heraus, die von nun an als "das Werk" in Umlauf ist. Nun entsteht, als Summe all dieser Erfahrungen, auch die definitive Partitur. Verleger und Veranstalter, die lange in Unsicherheit gehalten wurden, atmen auf: Endlich ein verbindliches Dokument, eine greifbare Partitur. Doch die Atempause ist kurz, denn bereits arbeitet Heiner Goebbels an einem neuen Projekt. Das nächste Abenteuer steht ins Haus.
Bereits im Frühjahr 1999 hatte man sich erstmals getroffen: Komponist. Bühnenbildner, Tonregisseur, Interpreten. Zwei Tage lang wurde improvisiert und experimentiert, wurden Klänge, Instrumentalaktionen und Situationen ausprobiert. Lichteinstellungen und musikalische Bruchstücke aufeinander abgestimmt. Dabei konnte jeder seine eigenen Ideen einbringen: ein gemeinsames Wühlen im grossen Materialtopf, der mit der Grunddisposition - sechs Schlagzeuger, Szene, Licht, Sampler, Mikrophonierung - gegeben war. Mit vielen Anregungen, Notizen und Aufzeichnungen ging Goebbels damals nach Hause. Ein Material- und Ideenfundus, aus dem in einem anderthalb Jahre dauernden Denkprozess die konkreten Umrisse des Werks heranreiften.
In der inneren Vorstellung des Komponisten verbanden sie sich unwillkürlich mit der zeitgleichen Lektüre eines Buchs, das ihn vor allem von seiner Erzählhaltung her faszinierte: "In jedem Abschnitt, in der ganzen Wortwahl, wird eine respektvolle Rücksichtnahme, ein vorsichtiges Zurücktreten vor etwas beschrieben. Selten die Sache selbst. Es ist eine um grosse Diskretion bemühte Schreibhaltung. Mich verblüffte, wie eine körperliche oder geistige Haltung, eine Lebenshaltung, sich in Wortwahl und Syntax manifestieren kann: Wann taucht das Subjekt im Satz auf, wie wird sein Erscheinen hinausgezögert usw."
Im Nachhinein spürte er, dass er hier das Modell für seine Herangehensweise an das neue Stück gefunden hatte: Nicht auf die Schlaginstrumente draufhauen, sondern sich ihnen indirekt, mit Vorsicht und Sensibilität nähern. Den Titel des Buches will Goebbels nicht nennen, denn er will nicht das Missverständnis einer Literaturvertonung aufkommen lassen, die es hier gar nicht gibt. Einen konkreten Hinweis auf den Text liefert nur der Titel ".. . Meme soir" - das Buch enthält eine Tagebuchaufzeichnung, die so überschrieben ist. Etwas von der Beiläufigkeit, Flüchtigkeit dieses Augenblicks möchte er in seiner Musik wiedererkennen. Es geht in diesem Stück nicht um symbolisches Theater, um das Als-ob einer erzählten Botschaft, sondern um das Vorzeigen von konkreten Materialien, Aktionen und Haltungen: Sie werden sicht- und hörbar gemacht, beginnen gleichsam in direkter Rede zu sprechen. Die Percussions de Strasbourg haben schon einige Erfahrungen mit halbszenischen Stücken gesammelt, doch so frei und souverän wie hier haben sie noch nie agiert. Von der Peinlichkeit, die sich manchmal einstellt, wenn sich Musiker schauspielerisch betätigen müssen, keine Spur.
Wie kaum ein Zweiter versteht es Heiner Goebbels, seine Interpreten aus der Reserve zu locken und ihre ganz individuellen Eigenschaften zur Entfaltung zu bringen. Damit befreit er sie aus der Rolle der bloss Nachvollziehenden, die einem fremden Willen unterworfen sind, und macht sie in gewisser Weise zu Mitautoren. Negativbeispiele hat er genügend beobachten können: "Man kann im Theater oft sehen, dass der Regisseur eine bestimmte Idee hat, aber nicht in der Lage ist, sie mit den Beteiligten umzusetzen. Entweder weil die Sänger nicht richtig laufen können, weil die Schauspieler nicht richtig singen können oder weil die Tänzer nicht richtig sprechen können oder weil das Bühnenbild doch nur aus Pappe und nicht eine wirkliche Wand ist. Man wird mit lauter Absichten konfrontiert und sieht die riesigen Verluste, die hinter diesen Absichten sind. Das möchte ich vermeiden. Mich interessieren nicht solche Absichten, sondern mich interessieren reale Partner auf der Bühne."
Mit der suggestiven Fähigkeit, die verborgenen Talente der Mitwirkenden zu entfalten, verbindet sich sein sicherer Instinkt für die Auswahl seiner Musiker-Darsteller. Viele von ihnen haben als Interpreten einen derart prägenden Einfluss auf "ihr" Stück gehabt, dass es ohne die individuelle Farbe, die sie ihm geliehen haben, kaum denkbar wäre. So etwa die Bühnenpräsenz von Ernst Stötzner und die Vokalakrobatik von David Moss in "Die Befreiung des Prometheus", die afrikanischen Kora- und Vokalsoli von Sira und Boubakar Djebate in "Ou bien le debarquement desastreux", die verrückte Erfinderpose von Andre Wilms in "Max Black" oder die unverwechselbare Aura der Musikerin/Schauspielerin Marie Goyette im Theaterstück "Die Wiederholung". Die Frankokanadierin, die bis dahin nie als Schauspielerin aufgetreten war, wurde von Goebbels für die Theaterbühne entdeckt.
Musikalische und räumlich-szenische Vorstellungen prägen gleichberechtigt das Erscheinungsbild vieler seiner Produktionen und machen aus ihnen eine Art von neuem Gesamtkunstwerk. Dies allerdings nicht verstanden im Sinne eines romantischen Illusionismus des 19. Jahrhunderts, sondern als Zusammenwirken der verschiedenen Wahrnehmungsebenen in einer Weise, die den Einzelkomponenten ihre Eigenständigkeit belässt und dadurch, dass sie die Transparenz des Gemachten betont, der kritischen Wahrnehmung zum Recht verhilft. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten ist auch hier wieder ein Katalysator für das ästhetische Gelingen. Die Impulse, die Interpreten, Klangregisseur und Bühnenbildner während des Entstehungsprozesses beisteuern, tragen wesentlich zum unverwechselbaren In- und Gegeneinander der medialen Ebenen bei. Das Spannende für einen Bühnenbildner sei, sagt Klaus Grünberg, der in ". . . Meme soir" für Bühne, Video und Licht verantwortlich ist, dass man vorher kein Modell baue, in dem sich dann die Schauspieler oder Musiker zurechtfinden müssten. "Vielmehr schaut man sich erst einmal um: Was gibt es alles, wer spielt mit, was für Ideen haben die Leute. Und dann wächst alles nebeneinander und miteinander langsam heran. Das ist für mich eine phantastische Art zu arbeiten." Es ist diese Offenheit des Konzepts, die in den Werken von Heiner Goebbels die vielfältigen Assoziationsräume schafft, in denen sich die Zuhörer/Zuschauer so schön verlieren und wiederfinden können.
on: ...même soir.- (Music Theatre)