4 December 2004, Christina Weiss
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Eine Geschichte über den Abschied
Grußwort vor der Aufführung Schwarz auf Weiss im Bolschoi Theater Moskau
Grußwort der Staatsministerin Dr. Christina Weiss vor der Aufführung "Schwarz auf Weiss" im Bolschoi Theater in Moskau Sehr geehrter Herr Kollege Sokolov, lieber Heiner Goebbels, meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen sie uns zunächst gemeinsam an eine Ende gehen - an das Ende eines Stückes, welches auf dem besten Wege ist, Geschichte zu schreiben. Da ist eine Stimme. Diese Stimme, die aus dem Lautsprecher an unsere Ohren dringt und förmlich in unsere Köpfe hineinkriecht, diese Stimme kennen wir. Es ist die Stimme Heiner Müllers. Sie rezitiert, man schreibt das Jahr 1991, einen Text: die Kurzgeschichte "Shadows" von Edgar Allan Poe. "Shadows", zu deutsch: Schatten, ist eine Parabel über Abwesenheit, über Tod und Ich-Verlust. Es ist zugleich eine grausam-gruselige Geschichte über die Welt, in der wir leben, eine Geschichte über den Abschied. Und in Heiner Müller, den ich an dieser Stelle einmal den Dichter und Dramatiker des Weltgewissens und der Weltvergewisserung nennen möchte, findet sie ganz wie von selbst jenen Rezitator, den sie braucht. Denn fernab von jeglichem Illustrativen und Hierarchischen konstituiert sich in diesen von Müller gelesenen Worten eine Aura, die hohe Kunst stets ausgezeichnet hat, die eines ihrer Hauptziele immer bilden sollte. Es ist die Aura der Kommunikation. Kommunikation: Dieser Begriff bildete eines der wesentlichen und kontinuierlichen Elemente der Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003/2004, die mit Ablauf dieser beiden Festivaljahre keineswegs abgeschlossen sind, sondern auf anderem Niveau fortgeführt und zur Selbstverständlichkeit in unseren Beziehungen werden sollten. Und deswegen dürfen beide Seiten entschieden stolz darauf sein, dass am heutigen Abend hier im Moskauer Bolschoi Theater die Russische Erstaufführung des Musiktheaters "Schwarz auf Weiß" von Heiner Goebbels über die Bühne geht. Es ist die Aufführung eines Stückes, das für den Komponisten, "eine Art Abschied von Heiner Müller" darstellt, und dessen ungemein zwingende Ästhetik überall dort, wo die Menschen seiner ansichtig geworden sind, Staunen, Begeisterung und Ergriffenheit hervorgerufen hat. Kurz und gut: "Schwarz auf Weiß" ist eines der exemplarischen Bühnenwerke der Neuzeit. Das Jahr der Deutschen Kultur in Russland 2004 feiert damit fraglos einen würdigen Höhepunkt. Auch und gerade deswegen, weil "Schwarz auf Weiß" ein Opus ist, welches auf nachgerade kongeniale Weise Brücken des Verständnisses errichtet und welches die Sinne bei allen, die mit diesem Stück in Berührung kommen, schärft. Das vielzitierte Wort vom Sinn und der Sinnlichkeit findet hier eine wunderbare Analogie. Oder, mit Wolfgang Amadeus Mozart gesprochen: Dies Bildnis ist bezaubernd schön. Schön meint jedoch nicht schlicht. Oder nur anschauenswert. "Schwarz auf Weiß" ist kein Gemälde. Es konfrontiert den Schauenden mit einer Realität, die im Leben selbst stattfindet, ja, man darf es so sagen: sie ist Leben selbst. Diese Kunst entsteht spürbar im Kontakt, zumal im Kontakt mit den 18 Musikern des Ensemble Modern. Ohne dieses außergewöhnliche Ensemble, das 2003 von der Kulturstiftung des Bundes zu einem Leuchtturm zeitgenössischer Kultur in Deutschland erklärt wurde und in Russland schon mehrfach mit großem Erfolg aufgetreten ist, ist das Musiktheater "Schwarz auf Weiß" kaum denkbar. Denn eines der Markenzeichen des Ensemble Modern ist Authentizität. Nicht minder bedeutend für den Erfolg von Kunst ist die Phantasie, die daraus entsteht. Und eben dies ist in dem Musiktheater "Schwarz auf Weiß" der Fall: Das Verschwinden des Komponisten-Ichs öffnet die Türen zu dem - von Jean Kalman wunderbar ausgeleuchteten - Phantasie-Raum; die Spekulation gerät gleichsam zum ästhetischen Spielball, der Diskurs zwischen Aufführenden und Rezipienten ist mit dem ersten Moment eröffnet und hält über die Dauer des Musiktheaters an. Wollte man bezweifeln, dass hierin eine hohe kommunikative Note liegt? Eben darin liegt meiner Meinung nach die ungebrochene Popularität des Stücks; ich möchte es ein "Nie-Müde-Werden" nennen. Von Heiner Goebbels selbst wissen wir, dass er folgendes Zitat von Walter Benjamin sehr schätzt und als eine Art Fundament seiner künstlerischen Arbeit betrachtet und eben auch verwendet: Benjamin sagt in dieser Sentenz über Kafka, dieser habe erst angefangen, große Literatur zu schreiben, als er in der Lage war, aufzuhören, Ich zu sagen. Diese Hyperindividualität vor allem ist es, die die Stärke von Goebbels' Musiktheater ausmacht. Das Ich mutiert dabei zu einem Kollektiv, und die Kunst, hier erlaube ich mir, den Komponisten selbst zu zitieren - die Kunst figuriert als Ausdruck nicht einer persönlichen Obsession, sondern als kollektive Erfahrung und als gesellschaftlicher Schatz." Diesen gesellschaftlichen Schatz hat das Ensemble Modern seit der Uraufführung von "Schwarz auf Weiß" 1996 im Theater am Turm in Frankfurt am Main beinahe durch die ganze Welt getragen. Das Musiktheater war in sämtlichen europäischen Zentren zu erleben, darüber hinaus unter anderem in New York, in Adelaide (Australien) und in Taipeh. Das Schöne daran meines Erachtens ist, dass sowohl das Stück als auch seine Interpreten gleichsam zu Kulturbotschaftern wurden. Sie nun hier im Bolschoi Theater erleben zu dürfen, bedeutet für mich, und hoffentlich für Sie alle, einen großen Gewinn. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen einen aufregenden Abend.
on: Schwarz auf Weiss (Music Theatre)