1 (1992), Theaterschrift
Interview (de)
Ich kann nie selber Thema sein
Interview with Tom Stromberg, Ritsaert ten Cate and Marianne Van Kerkhoven
Frage: Ihrer letzten Theaterproduktion 'Römische Hunde' in Frankfurt am Theater Am Turm liegt der Heiner-Müller-Text 'Der Horatier' zugrunde, ein Text über den Krieg, die Schlacht, über Sieger und Verlierer. War das für Sie der Grund, diesen Text zu benutzen? Heiner Goebbels: Das hatte sicher nicht aktuell diese Gründe, ich wollte den Text schon lange machen, schon seit vier, fünf Jahren. Trotzdem ist es sicher kein Zufall, daß so ein Text jetzt kommt, aber ich glaube, daß er wahrscheinlich weniger mit der Diskussion über Kriege, über Sieger zu tun hat, das sind sozusagen nur die Spitzen, die dieser Text in seinen Bildern wählt. Mich interessiert eher, wie Urteile zustande kommen oder wie Urteile Abwehrmechanismen beschreiben. Nicht, daß es eine Schlacht gibt, die jemand gewinnt, sondern wie darüber gesprochen wird und wie unterschieden wird. Das ist für mich das Aktuellste am 'Horatier'. In vielen Diskussionen, ob man die deutsche Geschichte als Ausgangspunkt, ob man die Stasi-Vergangenheit nimmt, ob man über Ausländerhaß und Rassismus redet, was auch immer an aktuellen Diskussionspunkten im Moment da ist, daran interessiert mich eigentlich immer eines: Wo schlagen Urteile in Meinungen um und was verbergen sie dabei. Das ist, was mich an dem Horatier-Text interessiert hat, also nicht, daß es um 'Krieg' ging. Ich kann kein Stück über 'den Krieg' machen, weil ich über seine Gesetze und über Erfahrungen damit nichts aussagen kann. Ich kann nur Auskunft geben über Bedingungen, unter denen ich selber lebe. Ich glaube außerdem, daß es Mißverständnisse im Umgang mit Heiner Müllers Texten gibt. Er radikalisiert Bilder von einem Zustand jenseits der Katastrophe. Und ich glaube trotzdem, daß die Kraft, mit der er das macht, und der Humor, mit dem er das beschreibt, immer auch das Gegenteil oder immer eine unglaubliche, eigentlich für mich sehr positive Energie hat. Deswegen beziehe ich mich auch oft auf den Humor in den Texten von Heiner Müller, andere sehen bei ihm immer nur das Existentialistische und das Nihilistische. Das habe ich nie so gelesen. Die Form, in der Heiner Müller schreibt, also die Fragmentarisierung, die Zertrümmerung von Texten, das ist etwas, das in Ihrer Arbeit immer wieder vorkommt, als roter Faden, immer wieder splitten Sie die Dinge auf, sei es in Ihren Hörspielen, sei es in 'Römische Hunde', Sie zerlegen die Dinge in Fragmente, in Einzelteile. Gibt es dennoch aus Ihrer Sicht eine Geschichte oder ist es überhaupt nötig, eine Geschichte zu hoben, die linear zugrundeliegt, oder glauben Sie, daß man sich auch aus Einzelteilen eine Geschichte selber zusammensuchen kann? Das ist kein Widerspruch. Man kann Geschichten überhaupt nur noch dann erzählen, wenn man sie nicht mehr als ganzes darbietet, sondern sie auflöst in ihre Bestandteile, in Einzelerlebnisse, die vielleicht unverbunden nebeneinander stehen, die Sprünge haben, die Brüche beinhalten. Das ist die Chance, so etwas wie eine Geschichte auch zu erfahren. Das mit den Sprüngen ist mir sehr wichtig, weil ich glaube, daß wir von unserer Wahrnehmung beeinflußt werden, von dem, was wir Wirklichkeit nennen, auch wenn das ein kitschiger Begriff ist. Die größte Veränderung im Moment besteht für mich darin, daß es keine Übergänge mehr gibt; und keine Entwicklungen, entweder, weil sie nicht mehr sichtbar sind, oder, weil sie tatsächlich nur noch in Brüchen zutage treten. Wären wir überhaupt noch in der Lage, Übergänge einer Evolution aufzunehmen, sind wir überhaupt noch dafür ausgestattet? Ja, wahrscheinlich in unseren Wünschen. Also, die Sentimentalität und der Kitsch vieler Wünsche und vieler Gefühle gehen natürlich immer in die Richtung, Übergänge zu haben, die langsamen Übergänge. Aber in unserer Wahrnehmung sind wir schon sehr von diesen Brüchen geprägt, gerade was die Entwicklung im Osten Europas anbelangt. Ich weiß nicht, was da von heute auf morgen passiert oder was von heute auf morgen nicht passiert, was sozusagen still stehenbleibt. Ich habe gerade einen Film gesehen, 'Eisenzeit' von Thomas Heise. Das ist ein Dokumentarfilm über die erste sozialistische Stadt in der DDR, die erste Neugründung 1950 mit dem Namen 'Stalinstadt', sie wurde dann umbenannt in 'Eisenhüttenstadt' und war im wesentlichen eine Stahlwerk-Stadt. Der Filmemacher hat versucht, vier Biographien von Jugendlichen, die nicht angepaßt waren und versuchten, in dieser schrecklichen Kleinstadt zu Rande zu kommen, zu verfolgen und zu filmen. Das wurde ihm natürlich nicht gestattet innerhalb der DDR, und er hat es dann auf eigene Faust nach dem Zusammenbruch gemacht. Von den vier Jugendlichen hatten zwei sich schon das Leben genommen. Die beiden andern leben in Westberlin. Am erschreckendsten für mich waren eigentlich die Gesichter der Eltern, die er interviewt hat. Etwas, was sehr viel zu tun hat mit der 'Wolokolamsker Chaussee Teil V', der Findlingsgeschichte bei Heiner Müller. Zum ersten Mal dachte ich, was ich bisher für ein antikommunistisches Klischee hielt, daß die DDR tatsächlich viele faschistische Strukturen hinübergerettet hatte. Daß es tatsächlich für eine ganz bestimmte Schicht von Arbeitern oder Befehlsempfängern überhaupt keinen Bruch gegeben haben kann vom Faschismus zum Beginn der DDR, wo nicht einmal das Vokabular ausgewechselt werden mußte. Und das kann man sehen an den Gesichtern, an der Art, wie die Eltern über ihre Söhne, die sich umgebracht hatten, reden, welche Ansprüche sie an Gehorsam und Anpassung stellen. Und es war auf extreme Weise erschreckend, weil man gesehen hat, daß sich da überhaupt nichts getan hat, also nicht einmal jetzt, wo die Söhne tot sind. Das ist dieser Gegensatz, dieses plötzliche Verschwinden von Biographien, aber auch diese betonierten Kontinuitäten, die ohne Übergänge funktionieren. Und das ist etwas, das für meine Musik große Konsequenz hat, diese Erfahrungen. Wenn man Musik komponiert, in der es sanfte Rundungen gibt, in der die Dinge sich langsam entwickeln oder in der ein Faden sich aus dem anderen entspinnt, diese Musik ist völlig vorbeikomponiert an den tatsächlichen Erlebnis-, Erfahrungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten, die wir haben. Wieso steht dann am Ende von 'Römische Hunde' dieser Blues, eine Musik, die genau das beschreibt, was Sie vorher verneint haben, was in Ihrer Arbeit nicht mehr vorkommt. Dieser Blues klingt sehr schön und fast versöhnlich. Ich finde, das ist kein Gegenargument. Der Blues besteht genau aus beidem - er besteht natürlich aus viel mehr, aber vor allen Dingen aus einer absolut computerisierten Musik, die ich auf einem Computer entworfen habe, nur mit On- und Off-Befehlen gespielt. Und man hört die Stimme, die vor diesem Hintergrund versucht, etwas anderes dagegen zu behaupten. Für mich ist wichtig, daß beides da ist, mich interessiert eigentlich immer der Widerspruch zwischen verschiedenen Bewegungen, zwischen bestimmten Tempi, zwischen bestimmten Strukturen. Mich interessiert z.B. die Stimme der Sängerin Gail Gilmore vor dem Hintergrund des relativ mechanischen Arrangements, das keine Rundungen hat und repetitiv ist. Ich kann Ihnen den Computerausdruck davon zeigen. Ähnlich, wie mich die Biographie dieser Jugendlichen interessiert vor dem Hintergrund des Vaters oder vor dem Hintergrund einer Betonplastik, die in Eisenhüttenstadt den sozialistischen Menschen proklamiert. Es ist nur spannend, wenn man sie beide im Blick hat, und nicht, wenn man sie nach der einen oder anderen Seite hin auflöst. Wie ist das mit Ihrer Musik: Fällt es Ihnen leicht, auf jeweils aktuelle Tendenzen, das heißt heute, auf Acid House, Hip Hop etc. einzugehen? Fließen die in Ihre Arbeit ein? Ja, weil ich selber sehr viel Musik höre und da drin aufgewachsen bin, und ich gehe immer noch viel in Discos, höre diese Sachen und mag sie auch. Ich glaube nicht, daß man sich dessen einfach bedienen sollte, wenn man von außen kommt. Diese Versuche sind meistens peinlich. Es geht nur dann, wenn es für einen stimmig ist, mit diesem Material zu arbeiten, und wenn man dann noch die Möglichkeit hat, vielleicht - was ich zumindest versuche - trotzdem so viel Distanz zu halten, so daß es nicht modisch ist. Ich glaube im Grunde nicht, daß ich einen eigenen Stil habe, auch wenn viele Leute sagen, 'das hört sich aber an wie Heiner Goebbels'. Man kann in der Musik heute keinen Personalstil mehr haben. Jetzt, wo alle Möglichkeiten des Erzählens, auch des mit Musik Erzählens, da sind, und man mit ihnen operieren kann, wenn man sich in ihnen auskennt, und sehr behutsam und mit Geschmack und Rücksicht über diese Mittel verfügt, nur dann kann man etwas Neues erzählen. Aber ich glaube nicht, daß man einen Personalstil in dem Sinne hochhalten kann, wie er letztlich aus dem alten Kompositionsideal des 19. Jahrhunderts kommt. Ihre musikalische Spannbreite ist sehr groß. Es gibt von Ihnen Arbeiten mit Musik von Heavy-Metal-Gruppen über Rap bis zu Orchestern, die klassisch besetzt sind, z.B. mit dem Ensemble Modern, das ja eigentlich die klassischen Musikinstrumente verwendet, wenig mit Computer arbeitet, oder auch das Ensemble lntercontemporain in Paris. Ich habe kein Stilproblem, mich interessiert die Verfahrensweise, und die kann ich mit ganz unterschiedlichen Materialien konfrontieren. Und wenn ich mit einer Speed-Metal-Band arbeite, dann weiß ich warum und weiß auch die Kriterien, nach denen ich deren Material bearbeiten muß, aber ich sage dann nicht: 'Oh Gott, dann kommst du als Komponist nicht mehr richtig vor'. Das ist für mich kein Problem, vielleicht bin ich in diesem Moment mehr Regisseur als Komponist, aber das ist nicht trennbar. Machen Sie Dinge für das Publikum oder für sich selbst? Das habe ich mich nie so gefragt. Es gibt zu viele Beispiele in der Kunst, die einen wirklich nicht interessieren, weil die Leute, die es machen, nur für sich selbst arbeiten, und umgekehrt gibt es natürlich genauso viele Dinge, die langweilig sind, weil man das Gefühl hat, daß die Leute, die es machen, nur auf das Publikum schielen. Das muß ein sehr komplizierter widersprüchlicher Prozeß beider Pole sein, die man nicht voneinander trennen sollte. Jede Entscheidung für die eine oder für die andere Seite ist verkehrt. Beispiel 'Römische Hunde': Ich gehe rein, ich komme raus, was soll mit mir geschehen sein? Eigentlich soll mit Ihnen gar nichts geschehen. Ich möchte, daß etwas passiert, was das Publikum selber in der Hand hat. Es soll ein Angebot geben von der Bühne, von der Musik oder von der Sprache, ein Angebot, auf das man eingeht, das einen vielleicht auch mal überfallen kann, aber beim Überfallen bin ich etwas zurückhaltender. Am Anfang, als Sie von dem Film über Eisenhüttenstadt gesprochen haben, schienen Sie weniger Abstand zu nehmen als man das aus Ihrer Arbeit an 'Römische Hunde' ablesen kann. Das hat etwas damit zu tun, daß ich den Abstand persönlich favorisiere. Brauchen Sie den Abstand? Ich glaube, daß wir ihn alle brauchen. Das Wechselverhältnis von Gefühl und Abstand. Und ich hoffe natürlich, daß es einmal so und mal so geht. Davon verspreche ich mir etwas. Man braucht den Abstand immer wieder, um ihn selbst zurücklegen zu können. Wenn eine Entfernung vor mir liegt, dann möchte ich bestimmte Dinge miteinander verbinden, und diese Strecke kann ich als Zuschauer selbst zurücklegen. Wenn ich auf der Bühne so tue, als wüßte ich, was zusammengehört, dann brauche ich als Zuschauer keinen Weg mehr zu gehen. Die schönsten Theaterabende für mich sind die, in denen ich selber die Dinge erst zusammensetzen muß, die sich als getrennt darstellen. Ich favorisiere den Abstand mehr als die Identifikation mit einem Gefühl. Für meine Arbeit gilt, daß ich als Individuum zu langweilig bin, um über mich Auskunft zu geben. Ich kann über gewisse Wahrnehmungen Auskunft geben, die mich interessieren, aber ich kann nie selber Thema eines Abends sein. Ich glaube, daß diese Zeit vorbei ist, selbst in der Popmusik gibt es nur noch ganz wenige, die das noch versuchen, aufrecht zu erhalten, und meistens sind es Abziehfiguren, aber es funktioniert nicht mehr. Aber wenn das Individuum also nicht mehr im Mittelpunkt steht, was ist dann mit Ihren subjektiven Entscheidungen? Eine Arbeit muß doch irgendwo anfangen mit einem Gefühl, einer Leidenschaft? Die Entscheidungen sind nicht so subjektiv, denn ich arbeite nicht alleine, und jetzt im Fall von 'Römische Hunde' habe ich nicht nur mit Michael Simon gearbeitet, sondern wir haben auch das ganze Material, alles das, was man sieht und hört, mit den Darstellern erfunden, und zwar durchaus in sehr emphatischen Sinne, also nicht nur, daß die das ausführen, was wir vorher schon im Kopf hatten, sondern daß man wirklich ganz viel gemeinsam erfindet. Man hört manchmal Künstler sagen, sie wären eine Gegenkraft in der Gesellschaft. Ist das so? Oder bilden die sich das ein? Also, ich bilde mir das nicht ein. Die Machtverhältnisse sind völlig anders strukturiert und ich habe da auch keine Illusionen oder bin so naiv, daß ich mir anmaßen würde, sie zu erschüttern. Aber man kann Freiräume besetzen oder vielleicht Wahrnehmungen aktualisieren. Aber ich sage weder, die Künstler sind arme Schweine, noch: wir erschüttern die Machtverhältnisse. Sind Sie gegen Kitsch? Im Umgang mit Politik, ja. Sonst nicht. Aber vielleicht muß man nur mehr Kitsch machen, um von Politikern verstanden zu werden. Auch in bezug auf Gegen-die-Macht-Sein. Man braucht eine andere Sprache. Also, mit Kitsch meine ich z.B. so etwas, wenn Peter Maffay sagt 'Ich bin ein Ausländer'. Da gibt es hier so eine berühmte Plakatserie. Das ist einfach völliger Quatsch, da die Identifizierung mit den Opfern oder mit den Unterdrückten ein genauso großer Abwehrmechanismus ist wie die sogenannte Fremdenfreundlichkeit. Das kann nicht das Thema sein, ich glaube, man braucht Abstand, oder man muß die Konfrontation suchen, um auf dieser Ebene Erfahrungen zu machen, weil man sonst immer nur um den heißen Brei herumargumentiert. Da ist ein ganz großer Unterschied zwischen der Kunst und dem Leben, und man muß sehr viel auf der Bühne austragen, was man so draußen nicht austragen kann. (Das Gespräch führten Tom Stromberg, Ritsaert ten Cate und Marianne Von Kerkhoven in Frankfurt am 13. Februar 1992)
on: Roemische Hunde (Music Theatre)